Ein einsames Haus inmitten der unberührten Natur, eine geisterhafte Gestalt im schwarzen Umhang, wispernde Bäume und rätselhafte Zeichen sind für das Stadtkind Patrick eine echte Herausforderung. Eigentlich will Patrick nur schnell zurück in die Stadt, doch all die rätselhaften Begebenheiten machen ihn neugierig und führen ihn geradewegs in sein grösstes Abenteuer...
Der elfjährige Patrick fühlt sich in der „Einöde", in die ihn seine „modernen" Eltern mitgenommen haben, einfach fehl am Platz. Nicht genug, dass die nächste Zivilisation kilometerweit entfernt ist, es gibt hier weder Fernseher noch „Playstation" - der Computer wird von seinen naturforschenden Eltern in Beschlag genommen. Ihm bleibt einzig das Telefon, um mit seinem Freund Abel in Kontakt zu bleiben. Ihm berichtet Patrick von den seltsamen Vorkommnissen um das Haus. Dass der Vermieter vor eventuellen Spukerscheinungen warnt, alarmiert Patrick wider Willen noch mehr. Schließlich erblickt Patrick am Wald eine seltsame Gestalt im schwarzen Umhang - dann ist sie im nächsten Augenblick verschwunden, um schon bald wieder im Garten des Hauses aufzutauchen. Dann ist da plötzlich so ein merkwürdiges Zeichen auf der Haustür; auch Abel findet das höchst eigenartig.
Patrick folgt eines Tages einer weissen, sprechenden Krähe und trifft schließlich auf die seltsame Gestalt. Nach einem kurzen Gerangel stellt Patrick fest, dass unter dem dicken Umhang ein Mädchen seines Alters steckt und den wohlklingenden Namen „Pareidolie" trägt. Pareidolie und Patrick gehen in dieselbe Schule, sogar in dieselbe Klasse. Der erste Schultag auf der fremden Schule verläuft für Patrick positiv - sogar die coole Gäng möchte ihn in ihrem Kreis aufnehmen. Doch Patrick bleibt neugierig auf Pareidolie, die während des Busfahrt zur Schule nicht mit ihm reden will und stets ihr merkwürdiges Symbol auf die Schultafel malt. Patrick und Pareidolie sind sich sympathisch und das verschlossene Mädchen öffnet sich ihm mehr und mehr. Sie erklärt, dass sie und ihre Mutter, die tief verborgen im Wald leben, sich vor dem „Windmann" verstecken müssen. Er dürfe sie auf keinen Fall entdecken - aus diesem Grund versteckt Pareidolie ihre feuerroten Haare unter einer schwarzen Baseball-Kappe und der Kapuze ihres Umhangs. Pareidolie nimmt ihm das Vesprechen ab, mit niemandem über ihr Geheimnis zu reden, da sie sonst in grosse Gefahr gerieten. Patrick sucht immer mehr die Nähe zu dem eigenwilligen und sehr intelligenten Mädchen - er schert sich nicht darum, dass die „Gäng" Pareidolie meidet - er weiss, sie haben nur Angst vor ihr.
Als Patrick zum ersten Mal die kleine Hütte im Wald besuchen darf, in der Pareidolie und ihre Mutter Rebecca leben, ist er fasziniert von ihrem Leben und den vielen geheimnisvollen Ritualen. Patrick ist davon überzeugt, dass Mutter und Tochter zaubern können - oder zumindest Gedanken lesen. Dass sie Hexen sein könnten, erhöht den Reiz noch mehr. Doch die Idylle trügt. Das Geld ist für Rebecca und ihre Tochter knapp geworden und der Lehrer Hahnenplock versucht unablässig Rebecca von dem massiven Leistungsabfall ihrer Tochter zu unterrichten; er möchte eventuelle Gründe erfahren und helfen, da er Pareidolie für eine sehr begabte Schülerin hält. Pareidolie aber blockt alle Konaktversuche des Lehrers ab, denn sie will nicht auf das Gymnasium, sie fürchtet, dort zu weit von ihrer Mutter entfernt zu sein und vom Windmann gefunden zu werden. Patrick, zunächst ganz auf der Seite von Pareidolie, unterstützt sie in ihren Abwehrmassnahmen, was ihn nur noch tiefer in die Angelenheiten von Mutter und Tochter verstrickt. Bald bleibt es weder Schule noch den toleranten Eltern von Patrick verborgen, dass irgendetwas nicht stimmt.
Erst als Patrick sich einen eigenen Blick auf die Dinge zutraut, beginnt er, zu hinterfragen. Pareidolie bekommt die Grippe und kann keinen Arzt konsultieren, weil der den Windmann auf ihre Spur bringen könnte. Doch besonders die schöne Rebecca, die eines Tages mit kurzgeschorenen Haaren im Garten sitzt und nicht mehr ansprechbar ist, macht ihm Sorgen. Pareidolie behauptet zwar, dass der Windmann mit Rebecca spreche und sie nur versuche ihn von ihrer Tochter fern zu halten, doch Patrick kann nicht mehr über die Tatsache hinwegsehen, dass Pareidolie unter erbärmlichen Bedingungen heranwächst und von ihrer Mutter in einer verschrobenen und entrückten Welt festgehalten wird.
Mutig stellt sich Patrick gegen alle Verbote und Konventionen - er will herausfinden, was es wirklich mit dem Windmann auf sich hat. Beklommen muss er einsehen, dass auch er - im Sog der tiefen Überzeugung, es gebe den Windmann - eine ganze Weile jenseits der Realität gelebt hat. Er setzt alles daran, Pareidolie aus den verqueren Umständen zu befreien. Doch dabei riskiert Patrick seine Freundin für immer zu verlieren.
In ihrem Roman „Wenn der Windmann kommt" beschreibt Antonia Michaelis auf sehr beeindruckende Weise die Ursprünglichkeit der Natur. Ihre Schönheit und zugleich Bedrohlichkeit umgibt diese besondere Freundschaftsgeschichte von Anfang an; sie ist Dreh- und Angelpunkt vieler „magischer" und kostbarer Momente. Ähnlich einer subtilen und durchdringenden Melodie entsteht eine Atmosphäre, die auch den Leser tief in das Geschehen um Pareidolies Geheimnis zieht.
Trotz aller magischen Momente spürt aber Patrick, der uns selbst die Geschichte erzählt , dass etwas Schweres, Unausgesprochenes auf Pareidolies Seele lastet. Durch die Augen von Patrick, den Antonia Michaelis geradezu liebevoll über die beiden „Frauen" erzählen lässt, erleben wir, wie sich seine Gefühle und seine Sicht auf die Dinge verändern.
Obwohl Antonia Michaelis bereits in ihren vorhergehenden Romanen ihr feines psychologisches Gespür und ihre gute Beobachtungsgabe unter Beweis gestellt hat, ist ihr neuester Roman etwas Besonderes. Anders als in „Das Geheimnis des 12. Kontinents" oder „Die Nacht der gefangenen Träume" gleitet ihre Geschichte dieses Mal nicht in eine fantastische Parallelwelt ab. In „Wenn der Windmann kommt" bleibt Antonia Michaelis in unseren Sphären, spielt aber mit der Schwelle zwischen Fantasie und Realität. Erst am Ende zeigt sich, welche Macht Rebecca auf die Wahrnehmung ihrer Tochter hat und damit auch auf Patrick, der dem eigenwilligen und geheimnisvollen Mädchen nur zu gern glauben möchte. Doch irgendwann wird aus dem Abenteuer der Kinder bitterer Ernst. Sehr behutsam führt Antonia Michaelis ihre Leser schließlich durch ein scheinbar undurchdringliches Geflecht von Verfolgungsangst und Aberglauben. Dies mag allzu düster klingen, doch viele Aspekte dieses zurückgezogenen Lebens stellt Antonia Michaelis zunächst als sehr harmonisch dar. Erst nach und nach dringen in diese entrückte Welt Farbspuren des grauen Alltags ein.
Antonia Michaelis möchte den Leser für keine ihrer Figuren einnehmen. Hilfreich sind hier auch die Tagebucheinträge von Pareidolie, in denen sie ihre Erlebnisse schildert. Hier wünscht sich Pareidolie insgeheim nichts sehnlicher, als ein ganz normales, unbeschwertes Leben führen zu können. Patrick und Pareidolie stehen füreinander ein - auch wenn das bedeutet, sich mal ganz handfest mit den stichelnden Jungs aus der „Gäng" zu prügeln, den stets bemühten Lehrer absichtlich zu täuschen oder in ein fremdes Haus einzudringen.
Trotz des berührenden und tiefgründigen Themas vermag Antonia Michaelis zugleich, das Positive als klaren Gegenpart aufrecht zu erhalten. Der einfühlsame und leichte Erzählton ist geprägt von den vielen kleinen Nebenschauplätzen, die vor allem die weiße Krähe, die alle Worte mit dem Buchstaben „R" liebt, besetzt. Geschickt spielt Antonia Michaelis mit ihren Dialogen die Bälle innerhalb der Geschichte hin und her; sei es ein Gedanke oder eine geflügelte Formulierung, die Patrick stets passend und auf lakonische Weise anzubringen weiss. Sie beherrscht es fabelhaft, lebendige Bilder im Kopf entstehen zu lassen, Gerüche zu benennen und ihre Charaktere überaus lebendig werden zu lassen. Dabei wirkt keiner ihrer Charaktere jemals unsympathisch - noch nicht einmal der „Windmann", für dessen Geschichte der Leser ebensoviel Mitgefühl empfinden kann, wie für das Schicksal der schwer erkrankten Mutter.
Dennoch lässt Antonia Michaelis am Schluss wieder einen unbestimmten Zauber zurück; denn da sind immer noch Pareidolies Fähigkeiten Gedanken zu lesen und Menschen zu beeinflussen, wie auch die wunderbar magischen Momente im Wald, die in Erinnerung bleiben.
Fazit:
Antonia Michaelis versteht es mit Leichtigkeit eine Stimmung heraufzubeschwören, bei der man alles für möglich hält. Mit ihrer humorvollen und klaren Sicht auf die Dinge erzählt sie von einer aussergewöhnlichen Freundschaft auf dem schmalen Grat zwischen Wahrheit und Illusion.
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