Lissies Vater, so scheint es, hat einen Vogel. Er tickt nicht ganz richtig oder ist das nur Tante Doreens Meinung, die angeblich so genau weiß, wie Erwachsene sich in der Gesellschaft zu benehmen haben? Lissie jedenfalls wünscht sich keinen anderen Papa, auch wenn ihrer seltsam ist.
Es ist Frühling. Die Vögel singen im Lerchenweg 12. Lissie schmeißt den Haushalt. In verkehrten Rollen mahnt die Tochter den Vater aufzustehen und behandelt ihn wie ein Kind, das morgens einfach nicht aus den Federn kommt. Verschlafen und grummelig trottet Vater Jakob zum Frühstück und muss sich sagen lassen, dass er sich waschen, rasieren und ordentlich anziehen soll, denn Tante Doreen hat ihren Besuch angekündigt. Eigenartig benimmt sie dieser Vater, der versucht Fliegen zu fangen und Vogelgeräusche von sich gibt. Lissie ist misstrauisch und geht statt in die Schule wieder nach Hause. Ihr Lehrer hat Verständnis für seine besorgte Schülerin, das weiß Lissie. Der Vater sucht weiterhin nach Tausendfüßlern, Würmern und Fliegen. Dann tönt es durch die Straßen, dass man sich für den Menschen-Vogelflug-Wettbewerb am kommenden Sonntag anmelden kann und alles wird klar. Lissies Papa bereitet sich auf dieses Spektakel vor. Er hat sich bereits sorgfältig Flügel gebastelt und ist einem Kind gleich aufgeregt, dass zum ersten Mal fliegen darf. Allerdings ist ihm klar, dass die Sache mit dem Abheben und Dahinsegeln gar nicht so einfach ist.
Lissie, die nun mittlerweile hinter sein Geheimnis gelangt ist, hört sich geduldig Papas Probleme an. Er ist zu dick und sollte seine Ernährung umstellen. Allerdings ist Lissies Vater der Meinung, so wie die anderen benötigt er keinen künstlichen Antrieb um zu fliegen, er hat Selbstvertrauen und Flügel. Das ist ausreichend. Tante Doreen ist im Anmarsch und sie regt sich schrecklich über den Papa und sein kindisches Benehmen auf. Sie fühlt sich zuständig, denn Lissies Mutter ist gestorben. Lissie jedoch stellt sich an die Seite ihres Vaters, der auf gar keinen Fall Doreens kalorienhaltige Mehlklöße verdrücken kann. Tante Doreen prüft auch ständig Lissies Orthographie- und Mathekenntnisse. Sie sorgt sich sehr um ihre Nichte und möchte sie gern zu sich nehmen, aber Lissie hält zu Jakob. Gemeinsam basteln Tochter und Vater an ihren Flügeln und genießen die gemeinsame Zeit und ihr Projekt. Auch Lissie meldet sich zum Wettbewerb an. Jakob fängt zu Studienzwecken eine Krähe, lässt diese aber unter Protest der beiden Frauen wieder frei. Vater und Tochter bauen sich ein gemütliches Nest und wenn sie könnten, würden sie auch gern Eier legen und Küken ausbrüten. Vögel sollen ja die besten Eltern der Welt sein. Tante Doreen holt zur Verstärkung Lissies Lehrer, Herrn Minz. Er soll dem Vater ins Gewissen reden. Aber Herr Minz findet Gefallen an der Vogelaktion und denkt sich selbst eine Möglichkeit aus, um mitzufliegen.
Der Flugwettbewerb beginnt und die Teilnehmer haben sich witzige Sachen, wie Riesengummibänder oder Verkleidungen als menschlicher Floh ausgedacht, um mitzumachen. Alle sollen über einen Fluss fliegen und alle landen im Wasser, auch Jakob und Lissie, die ihre Krähenkostüme tragen. Trotz der vermeintlichen Niederlage haben alle viel Spaß.
Am Ende tanzen Jakob und Lissie, Doreen und Herr Minz gemeinsam und es scheint so, als würde ihnen die Freude Flügel verleihen und sie über den Boden schweben lassen.
David Almond ist ein versierter englischer Jugendbuchautor, der durch seinen geheimnisvollen Roman „Zeit des Mondes" in Deutschland bekannt wurde. Almond ist ein Lebenskünstler, er war Postbote, Bürstenverkäufer, Verleger und Lehrer. Er schreibt über sich und sein Leben: „Schreiben kann schwierig sein, aber manchmal fühlt es sich an wie eine Art Zauber. Ich glaube Geschichten sind etwas Lebendiges und gehören zum Wichtigsten in der Welt." ( Aus dem Nachwort von „Zeit des Mondes", Ravensburger Verlag, 1999)
In seinem Kinderbuch „ Mein Papa kann fliegen" erzählt David Almond eine witzige Alltagsgeschichte, die sich mit dem Rollenverständnis in unserer Gesellschaft auseinander setzt. Warum soll ein Vater nicht kindisch, naiv und vor allem kreativ sein? Jakobs Beschäftigung hat keinen wahren Wert, keinen Nutzen und doch verbindet gerade diese Flugaktion Vater und Tochter auf wunderbare Weise. Den alten Menschheitstraum vom Fliegen thematisiert David Almond auf spielerische Art. Gemeinsam lernen Vater, Tochter und der Leser sehr viel über das Verhalten der Vögel. Jakob und Lissie beteiligen sich an einem Experiment, das zum Scheitern verurteilt ist, denn alle Beteiligten sind Amateure. Lissie und Jakob verbringen viel Zeit miteinander und fallen am Ende auch gemeinsam in den Fluss. Dialogreich und vor allem anschaulich und liebenswert schreibt David Almond von einer Familie, in der offensichtlich nur Tante Doreen weiß, wie alles richtig und ordentlich ist. Allerdings interessiert das weder Lissie, Jakob noch Herrn Minz und das ist der Witz.
Ist Lissie zu Beginn der Geschichte die ernste, praktische Erwachsene, die Ordnung in die Welt bringen will, so wird sie auch wieder zum Kind, in dem Moment, wo der Vater seine verrückte Flugprojekt-Idee gemeinsam mit ihr in die Tat umsetzen will. Stellt sich schnell die Frage, wie unwiderbringlich ist die Kindheit und wie kostbar. Spielerisch lernen Vater und Tocher gemeinsam und somit ist dieses Buch auch eine empfehlenswerte Lektüre für Eltern und Kinder. Wie schnell vergessen Erwachsene ihre eigene Neugier, Kreativität und Lust am Verspielten. Lissies Vater hält ihnen den Spiegel vor.
Fazit:
David Almond hat eine kleine, feine Geschichte über das Fliegen ohne Perfektionsanspruch, die Unvernunft, eine Vater-Tochter-Beziehung und die Liebe geschrieben. Ein wahres Lesevergnügen für alle, die gern experimentieren und offen sind für Erfahrungen jeglicher Art.
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