Leo mittendrin
- Fischer Schatzinsel
- Erschienen: April 2008
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Ausser Leo gibt es noch zwei kleinere Brüder in der Familie sowie eine ältere Schwester, die versucht, erwachsen zu werden; Leo ist mittendrin. Da es bei ihm zu Hause meist ziemlich laut und turbulent zugeht, sehnt sich der träumerische Junge nach dem grossen Moment, in dem er allein strahlen und im Mittelpunkt stehen kann. Denn ";mittendrin" bedeutet noch lange nicht, der Mittelpunkt zu sein.
Leo glaubt für seine Familie und ganz besonders für seine Eltern unsichtbar zu sein. Sein ein Jahr jüngerer Bruder, Pietro, ist der grosse Sportler in der Familie, sein jüngster Bruder, Nunzio, der mit acht Jahren immer noch so süss lispelt, singt so aussergewöhnlich schön, dass es die Zuhörer zu Tränen rührt; Leos launische grosse Schwester Contento (15) ist eine begabte Fußballspielerin. Leo macht nichts von alledem. Er hat schon einmal in der Theatergruppe in der Schule mitgemacht und hat sich prompt bei dem einzigen Satz, den er sprechen musste, ";vertetzt" (statt ";verletzt" hat er ";vertetzt" gesagt).
Nun steht ein neues Stück an und Leo träumt von der Hauptrolle in Mr Beebers Stück mit Namen ";Rumfolos Veranda". Er möchte die Rolle des alten Rumfolo spielen - doch es kommt anders. Er bekommt die Rolle der Alten. Seine Familie ist nur wenig begeistert.
Eines Tages entdeckt Leo in einer Kiste auf dem Dachboden alte persönliche Dinge seines Vaters. Dinge, die ihm gehört hatten, als er so alt war wie Leo. Neben alten Steppschuhen findet er eine Art Tagebuch mit dem Titel ";Giorgios Autobiographie, verfasst mit dreizehn", darin erfährt Leo unglaubliches über seinen Vater. Der hatte viele Ziele im Leben, er wollte Sänger, Tänzer, Schriftsteller und Sportler werden. ";Vater" oder ";Buchhalter" stehen nicht auf der Liste. Während seiner obligatorischen Runden um das Haus auf dem Garagendach angelangt, denkt Leo darüber nach, dass sein Vater heute nicht mehr glücklich ist - nur noch genervt. Was mag in all den Jahren wohl passiert sein? Später einmal erinnert sich Leo an die glückliche Zeit vor Papas Herzinfarkt und welche schönen Unternehmungen sie zusammen gemacht haben. Leo hat damals gespürt, wie gerne der Vater mit seinen Kindern zusammen war. Nun hat sich die Stimmung in der Familie geändert. Alle helfen heute mit - doch Leos Mutter Mariana scheint ständig vollkommen überlastet zu sein.
Heimlich, wenn Leo mal wieder in den Genuss kommt ganz allein zu Hause zu sein, tanzt er mit den alten Steppschuhen seines Vaters, denn der steppte besonders gern, wenn wer glücklich war. Und tatsächlich: Auch Leo steppt gerne wenn er glücklich ist und wenn er steppt, wird er glücklich.
Die Proben zu dem Theaterstück ";Rumfolos Veranda"sind eine harte Geduldsprobe für den engagierten Mr Beeber. Urkomische, da vollkommen sinnlose Diskussionen zwischen den Darstellern flechtet Sharon Creech hier ein und unterhält damit köstlich. Sie zeigt auch, wie weit weg das wirkliche Leben davon ist, ernst genommen werden zu wollen. Zum Glück denkt sich das auch wohl der arme Mr Beeber. Leo hingegen macht sich grosse Sorgen, ob unter diesen Umständen ein einigermassen anständiges Stück überhaupt zustande kommen kann. Die Schüler erhalten eine kluge Aufgabe: Sie sollen über einen bestimmten Menschen in ihrer Familie nachdenken; wie war dieser Mensch früher, wer ist er heute und was hat ihn zu dem gemacht, der er heute ist? Eine schwere, eine ungewöhnliche Aufgabe für Kinder, die doch niemals darüber nachdenken, wie es früher war, sondern sich nur um das Morgen Gedanken machen. Leo und seine kluge Freundin Ruby verstehen erst langsam, was das mit dem Theaterstück und wohl auch mit dem Leben zu tun haben soll.
So erzählt Ruby schließlich zum ersten Mal von ihrem kleinen Bruder, der plötzlich gestorben ist. Sie fragt sich oft, wie er heute wohl wäre und vermisst ihn noch immer sehr.
Leo versteht Ruby. Doch auch er findet in seiner Familie einen Schatten, der sich in Form eines hartnäckigen Schweigens über alle Familienmitglieder legt: Leos Tante Rosaria, die Lieblingsschwester seines Vaters, hat die Familie als Teenager verlassen und weigert sich seitdem, je wieder Kontakt aufzunehmen. Leo hat nie etwas von ihr gewusst - nur aus Vaters Autobiographie hat er zum ersten Mal von ihr erfahren (er darf also nicht erzählen, woher er es weiss). Doch Rosaria ist unsichtbar in der Familie - wie Leo. Er kämpft darum, mehr von seiner Tante zu erfahren. Er fragt seine Großmutter ";Grandma Navy" (weil sie immerzu dunkelbau trägt) doch die läuft nur weinend davon. Irgendwann jedoch, als Leo unter misslichen Umständen bei Grandma Navy übernachtet, fasst sie Vertrauen und erzählt ihm alles über Rosaria. Nun ist sie kein unsichtbarer Geist mehr und Leo ermuntert seine Großmutter, wieder mit ihr Kontakt aufzunehmen.
In den ruhmreichsten Momenten treffen die Familie gleich drei Unfälle hintereinander in so schneller Folge, dass das Krankenhauspersonal, in das die jungen Patienten eingeliefert werden müssen, bereits misstrauisch wird: Das fulminante Spiel von Pietro endet mit einem Beinbruch, Das Spiel von seiner Schwester Contento endet mit einer schmerzhaften Knieverletzung und der Jüngste, Nunzio, dem beim Singen keinerlei Gefahr drohen sollte, stürzt im Gerangel auf den Stufen der Gesangsempore so schwer, dass er bewusstlos und mit blutender Kopfwunde wieder in das schon allseits bekannte Krankenhaus eingeliefert werden muss. Dabei kann man als ";Zuschauer" amüsiert beobachten, welche eigenwilligen Rituale sich in Leos Familie abspielen: Jede Fahrt zum wichtigen Ereignis wird auf den letzten Drücker angetreteten, vor jeder Fahrt sucht Nunzio noch seine Schuhe und der jeweilige Held des Tages befürchtet zu Recht, wegen der Verspätung von dem Trainer bzw. Chorleiter umgebracht zu werden - und nicht zu vergessen, endet jedes Highlight mit einem Krankenhausbesuch.
Dann ist es so weit: Das Theaterstück wird uraufgeführt (ohnehin wrid es nur einmal aufgeführt). Wieder sind sie spät dran, wieder hat Nunzio seine Schuhe verlegt, wieder befürchtet der Held des Tages, dieses Mal Leo selbst, dass der Lehrer Mr Beeber ihn umbringen wird, weil sie zu spät kommen... Das Theaterstück wird ein voller Efolg. Endlich muss Leo nicht mehr davon träumen, dass seine Familie, allen voran sein Vater, ihm mit leuchtenden Augen und uferloser Begeisterung Beifall klatscht. Alle sind stolz auf Leo - und der macht seine Sache wirklich gut. Am Ende ist er sogar so glücklich, dass er improvisiert: Er steppt.
Wie ein Theaterstück hat auch Sharon Creech dieses Buch aufgebaut; da werden zu Anfang alle beteiligten Personen aufgeführt und der Vorhang geht auf: Leo selbst betrachtet sein Leben, als sei er selbst Zuschauer: ";Ich war immer mittendrin oder am Rand und habe zugeschaut. Es war so, als würden alle anderen ein Theaterstück spielen..." Leo erlebt alles mit einem gewissen Abstand und kann jederzeit in seine vermeintlich aufregendere Fantasiewelt abtauchen. Als Zuschauer seiner eigenen Welt wird er aber immer mehr in das Stück hineingezogen, wird Teil der Geschichte. Ähnlich wie im Theaterstück um den alten Rumfolo und die beiden Kinder, verändert sich etwas im Leben der Familie.
Sharon Creech erzählt auf ihre für sie so typische leise Weise von den Gefühlen und der Suche nach dem eigenen Platz, der eigenen Identität. Trotz aller Trauer und Enttäuschung, die Leos Familie seit dem Herzinfarkt des Vaters überschattet, schafft Sharon Creech es dennoch humorvolle und sonnige Momentaufnahmen in das Geschehen einzuflechten. Da ist zum einen der immer gleiche Ablauf bei den Familientreffen wenn die Großeltern, Onkel und Tanten sowie Cousins und Cousinen in aller Regelmässigkeit bei Leos Familie einfallen und da sind auch die stereotpyen Dialoge, die ähnlich wie das Abfahrt-Ritual immer gleich verlaufen. Doch sie zeigen gleichzeitig, obwohl es immer wieder zotig wirkt, die Sprachlosigkeit in der Familie. Die Familienmitglieder, auch die in Leos Familie, haben nie gelernt wirklich miteinander zu reden.
In all dem Chaos und der Sorge bleibt Leo mit seinem Herzen bei seiner Familie, spendet Trost und nimmt sich zurück. Vorsichtig äugt er auch immer wieder zu seinem Vater herüber, denkt über ihn und sein bisheriges Leben nach. So ist Leo, zwar vordergründig von der Familie belächelt, ein unentbehrlicher Teil ihrer Gemeinschaft. Das macht sein Vater ihm am Ende der Geschichte klar. In jedem seiner Kinder sieht er einen seiner Träume verwirklicht. Das macht ihn stolz und glücklich. Doch in Leo scheint er mehr zu entdecken und so schenkt er ihm am Ende ";Giorgios Autobiographie, verfasst mit dreizehn" und die Steppschuhe...
Fazit:
Sharon Creech erzählt in ihrem Roman viel mehr als nur eine unterhaltsame Familiengeschichte, in der ";Leo mittendrin" steckt. Sie erzählt vom Werden und Wachsen. Leo, der Junge der immer vom Glück träumt, findet endlich in das Leben und damit einen Platz in seiner Familie - den des grossen Bruders. Wunderschön, lebendig und humorvoll mit einem berührenden Happy-End.
Sharon Creech, Fischer Schatzinsel
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