Das Buch ";Das Mädchen unter dem Dohlenbaum" ist sicherlich keine leichte Kost für Kinder. Doch trotz der schwer greifbaren Gefühle, die durch Tod und Trauer ausgelöst werden, nähert sich das finnische Autorenduo Riitta Jalonen und Kristiina Louhi dem Thema sehr poetisch an und vermittelt es mithilfe anspruchsvoller Metaphern.
Ein Mädchen hat seinen Vater verloren. Während ihre Mutter Fahrkarten im Bahnhof besorgt, stellt sich das Mädchen unter einem Dohlenbaum und lässt ihren Trauergedanken freien Lauf. Sie beschreibt u.a. ihren körperlichen Schmerz der Trauer:"Manchmal tut es auch im Hals weh oder in den Ohren. Der Hals fühlt sich dann dicker an, und in den Ohren ist ein Stechen. Es ist ein Gefühl, als ob man ganz schnell rennen sollte und könnte es nicht." Viele Erinnerungen an ihren Vater und viele zusammen erlebte Situationen tauchen immer wieder in Ihren Gedanken auf und werden noch einmal durchlebt. Auch die direkte Konfrontation mit der Umwelt. So liest man: ";In der Schule wissen sie, dass mein Vater gestorben ist. Ich hab mich einfach gemeldet und es erzählt. In der Pause sind dann Tiina, Kaisa und Saara gekommen und wollten wissen, wie man sich fühlt, wenn auf einmal der Vater tot ist. Traurig ist man, hab ich gesagt, und dann haben sie nicht weitergefragt. Dabei kommt es mir manchmal so vor, als wäre er gar nicht gestorben." Der tröstende Gedanke, dass ihr Vater im Himmel ist und alles sehen kann, was sie erlebt und macht, gibt ihr immer noch eine spürbare Nähe zum geliebten Vater, sowie Trost. ";Früher habe ich Papa gesagt, aber jetzt sag ich Vater". Dieser Satz wiederum zeigt die grösserwerdende Distanz, die leider mit der Zeit kommt - kommen muss.
Dass ihre Mutter mit ihr in eine andere Stadt fahren möchte, um eine Arbeitsstelle zu finden, bereitet ihr Angst. Schliesslich werden sie später dorthin ziehen. Alles würde neu für sie sein. Eine riesige Herausforderung - zum tragischen Verlust des Vaters eine zusätzliche Belastung. Das Mädchen hofft, dass es alle Erinnerungen mitnehmen kann und weiss, dass dies sicherlich nicht leicht sein wird. Neue Erinnerungen braucht sie jetzt aber am allerwenigstens.
Die Erzählungen, Gedanken und Erinnerungen des namenlosen Mädchens sind in Ich-Form gehalten. Das schafft eine gewisse Distanz, die für Kinder richtig und wichtig ist, um sich dem schwierigen Thema mit der notwendigen Objektivität nähern zu können.
Die Dohle als kleinster Vertreter der Gattung der Raben und Krähen gilt im alten Volksglauben als Todesbote und Zaubervogel. Auf mittelalterlichen Abbildungen ist sie oft zusammen mit Hexen zu sehen. Besonders den Dohlen sagte man nach, dass sie Unglück bringen und Schlecht-Wetterpropheten seien, die Stürme und Erdbeben heraufbeschwören können. Auf ähnlich düstere Weise werden sie auch auf den fast doppelseitigen Illustrationen von Kristiina Louhi dargestellt. Diese eher bedrückenden Momentaufnahmen wechseln sich mit verhähltnismässig farbenfrohen und hoffnungsgebenden Bildern ab.
Dieses Wechselspiel gibt die innere Zerrissenheit des Mädchens, zwischen Leere und Zuversicht, sehr gut wieder. Man findet kaum Abgrenzungen bei der Darstellung der Gegenstände - auch unterschiedliche Farben wirken leicht verschwommen. Der Hintergrund ist meist nur flächig angelegt und entbehrt jede ";Kulisse" - eine Leere, die wiederum mit der Verlassenheit des Mädchens in Verbindung gesetzt werden kann.
Ähnlich symbolisch wie die Illustrationen der Finnin Kristiina Louhi ist auch der imposante Text von Riitta Jalonen. Nichts wird plakativ nach vorne gespielt, alles bleibt zunächst unter der Oberfläche von Trauer und Verlorenheit. Die etwas unscharfe Ausgestaltung der bildhaften Wiedergabe findet sich auch in den Worten der Autorin wieder. Beinahe nüchtern führt sie Momentaufnahmen mit poetischen Betrachtungen ins Feld, die voller Metaphern und hintergründigen Bedeutungen sind. Eine wirkliche Handlung, ein Dialog mit dem Leben, findet nicht statt. Das Mädchen unter dem Dohlenbaum ist versunken in ihren Erinnerungen und Betrachtungen. Wir dürfen nur einem Teil ihrer Ansichten und Gefühle lauschen. Dabei hat so mancher ";ihrer" Sätze das Zeug dazu, wieder und wieder betrachtet und auf verschiedene Weise gedeutet zu werden. Keine leichte Kost also, denn ";Das Mädchen unter dem Dohlenbaum" ist nicht schnell gelesen und verstanden. Damit ist es auch kaum ein Buch für das klassische Bilderbuchalter. Ich würde es daher erst für Kinder ab 8 Jahren unter Begleitung eines Erwachsenen empfehlen, so dass die Botschaften in vielen kleinen Schritten entschlüsselt werden können. Hier könnte ich mir gut vorstellen, dass das Buch gerade im Religionsunterricht sehr viele wertvolle Gespräche anstossen kann.
";Das Mädchen unter dem Dohlenbaum" wurde mit dem Finlandia-Junior-Pries und mit dem grossen finnischen Staatspreis für Kinderbücher ausgezeichnet.
Fazit:
";Das Mädchen unter dem Dohlenbaum" ist ein sehr sensibles, einfühlsames und sinnbildliches Buch,
das durch das harmonische Zusammenspiel zwischen Text und Illustration eine intensive Auseinandersetzung geradezu herausfordert. Ein stilles, beeindruckendes Buch, das aber aufgrund der reinen Betrachtungsebene, auf der sich alles abspielt, erst für Kinder ab 8 Jahren geeignet ist - doch auch für Erwachsene kann es ein wertvoller Begleiter sein.
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