Der Notenperfektmeister (1-4)
- Erschienen: Mai 2022
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Denken in anderen Mustern
Langweilig wird es bei Julian, Jake, Lilly und Nicklas zuhause nie. Allein schon die Tatsache, dass ihre Familie mit vier Kindern eine Großfamilie ist, zu der auch noch Familienhund Loki gehört, sorgt dafür, dass immer etwas los ist. Zusätzlich haben alle vier Kinder eine Besonderheit, die den Familienalltag aufmischt.
Da wäre zunächst der 17jährige Julian. So sehr er sich auch anstrengt und bemüht, bei ihm herrscht immer Chaos. Ständig verliert er etwas, vergisst seine Hausaufgaben oder Schlüssel und Ordnung ist für ihn ein Fremdwort. Bei seinen Mitschülern eckt er mit seinem impulsiven und unüberlegten Handeln oft an und auch zuhause kommt es schnell zu Streit. Er fragt sich oft, warum bei anderen alles immer so einfach scheint, was bei ihm überhaupt nicht klappt und findet schließlich eine Erklärung: In seinem Zimmer müssen Kobolde leben, die hinter seinem Rücken immer wieder für Chaos sorgen!
Auch seine jüngere Schwester Lilly versteht oft nicht, was bei ihr falsch läuft. Denn im Gegensatz zu ihren Mitschülern und ihrem Zwillingsbruder Jake gelingt ihr das Lesen und Schreiben nur sehr schlecht. So sehr sie auch übt, es wird einfach nicht besser. Zwar hat sie Strategien wie Auswendiglernen entwickelt, um ihre Leseschwäche zu überspielen, doch oft genug kommt sie bei neuen Texten an ihre Grenzen. Kein Wunder, dass Lilly immer mehr an sich selbst zweifelt, wenn ihr einfach nicht gelingen will, was bei anderen so einfach wirkt. Gut, dass es Familienhund Loki gibt, in dem sie einen Verbündeten findet und mit dem sie Schritt für Schritt immer besser im Lesen und Schreiben wird.
Auch Jake hat sein Päckchen zu tragen, denn er ist verträumt, bekommt viele Dinge nicht mit. Doch nachts sind seine Träume nicht angenehm, ganz im Gegenteil. Seine Albträume sind so schlimm, dass er oft lange wach liegt. Tagsüber hingegen verliert er sich gerne in seine Träumereien, die ihn überall hinführen. Sein Kopf ist dabei immer voller Gedanken, die ihn abschweifen lassen. Kein Wunder, dass er oft Dinge verlegt und plötzlich unerwartet wiederfindet. Ob er einen Weg finden wird, seine nächtlichen Träume zu verhindern?
Nicklas ist der jüngste der vier. Er lebt in seiner eigenen Welt und es fällt ihm schwer, die Reize unserer schnellen und oft lauten Welt zu verarbeiten. Denn er fühlt alles viel intensiver, braucht Routinen als Sicherheit. Ein großes Problem ist seine Dyslalie, weswegen er nicht so mit seinen Mitmenschen kommunizieren kann, wie er es gerne würde. Obwohl sich die Worte für ihn richtig anhören, kommen sie für andere unverständlich aus seinem Mund. Zum Glück hat er inzwischen einen Talker, eine Art Sprach-Tablet, welches für ihn spricht, wenn er die entsprechenden Symbole auswählt. Da ist es kein Wunder, dass er so begeistert in die Schule geht, schließlich kann er dort Schreiben lernen, womit er sich noch mehr Gehör verschaffen kann. Ein IQ von 50, wie ihm mit drei diagnostiziert wurde? Nicklas zeigt, wie falsch die Ärzte lagen und was in ihm steckt!
Streng dich doch mal an und reiß dich zusammen, dann klappt das auch!
Julian, Lilly, Jake und Nicklas stehen stellvertretend für eine große Anzahl an Kindern, deren Gehirn etwas anders funktioniert als das des „Durchschnitts“. Eigentlich kein Problem, doch leider ist die Gesellschaft in fast allen Bereichen auf „normal“ ausgerichtet, was in vielen Situationen immer wieder für Schwierigkeiten sorgt. Oft haben die vier Geschwister mit Problemen zu kämpfen, die andere in ihrem Alter nicht haben. Julian wirkt durch seine ADHS unorganisiert, chaotisch und impulsiv, oft wird ihm vorgeworfen, dass er sich einfach mehr anstrengen muss, dabei funktioniert sein Gehirn einfach anders und eine längere Konzentrationsspanne ist ihm oft gar nicht möglich.
Auch für seine Schwester Lilly ist es immer wieder frustrierend zu hören, dass das Lesen und Schreiben eigentlich ganz einfach sei, sie sich nur mal mehr anstrengen und intensiv üben müsse. Durch ihre LRS kommt es ihr jedoch so vor, als würden die Buchstaben und Wörter durch die Reihen tanzen und ihr immer wieder entgleiten.
Auch Jake kämpft mit seinen Träumen. Anders als sein großer Bruder ist er zwar nicht hyperaktiv, dennoch ist er durch seine ADS oft verträumt und in Gedanken verloren.
Im Gegensatz zu seinen Geschwistern fällt bei Nicklas sofort auf, dass er Autist ist, allein schon, weil er nicht sprechen kann. Heißt es bei seinen Brüdern und seiner Schwester immer, sie müssen sich nur mal zusammenreißen und anstrengen, ist es bei ihm anders. Von ihm wird erwartet, dass er sowieso nichts kann und entsprechend wird er von vielen behandelt.
Neurodiversität ist vielfältig
Lilly Leseherz gewährt in ihren kurzen Romanen Einblicke in die Welt neurodiverser Kinder. Ob LRS, ADHS, ADS oder Autismus, in allen vier Fällen arbeitet das Gehirn anders, was zu Problemen in verschiedenen Lebensbereichen führen kann. In den Köpfen vieler Mitmenschen ist Neurodiversität auch heute noch nicht präsent, wird gerne als „Modediagnose“ abgetan oder als beschönigende Ausrede von Eltern, die ihre Kinder nicht erziehen können.
Dadurch, dass Lilly Leseherz ihre Geschichten aus der Ich-Perspektive der betroffenen Kinder erzählt, wird deutlich, wie sich die ständigen „Niederlagen“ im sozialen und schulischen Bereich auf die Kinder auswirken. Zudem ist es interessant zu lesen, wie die vier ihre „Symptome“ empfinden, wie sie immer wieder versuchen, gegen sie anzukommen und welche Strategien sie für sich finden.
An vielen Stellen wird die Erzählung durch sachliche Kommentare, in denen sich Hintergrundinfos finden, ergänzt. Zudem befindet sich am Ende noch ein Abschnitt „Worte einer Mutter“, in dem scheinbar die Autorin selbst (über die nichts bekannt ist, außer dass sie unter einem Pseudonym schreibt) über ihre Erfahrungen mit dem jeweiligen „Krankheitsbild“ schreibt, Tipps gibt oder auch Sprüche anderer teilt, die sich betroffene Familien immer wieder anhören müssen.
Inhaltlich richten sich die Bücher zwar an Kinder ab 10 Jahren und sollen Mut machen, sie lesen sich jedoch durch die vielen Sachergänzungen, das Nachwort und die Tipps eher wie Bücher an Eltern neurodiverser Kinder, die ihre Söhne oder Töchter besser verstehen und ihnen helfen wollen. Daran ändern auch die kleinen Skizzen am Rande wenig, die den Text an einigen Stellen illustrieren.
Die Buchstabenzähmerin (LRS) und Der Notenperfektmeister (Autismus) sind insgesamt ganz gut gelungen und gewähren interessante Einblicke in für die meisten Menschen ungewohnte Denkmuster. Der Chaosherzkobold (ADHS) liest sich hingegen sehr sprunghaft, die Idee mit den Kobolden wirkt unpassend und passt nicht mehr gut zum Alter des Protagonisten, was die Geschichte am Ende etwas befremdlich wirken lässt. Auch bei Der Traumseelenfänger (ADS) steht das Thema Albträume zu sehr im Fokus, sodass die restlichen Symptome der ADS in den Hintergrund rücken. Daran, dass die Geschichten abgesehen von den Kommentaren und Ergänzungen komplett in Großbuchstaben verfasst sind, muss man sich erst gewöhnen. Ich empfand es anfangs als störend, da sich einige Buchstaben auch nicht direkt unterscheiden ließen.
Fazit
Insgesamt eine interessante Buchreihe, die spannende Einblicke in die Welt neurodiverser Kinder gewährt. Inhaltlich können vor allem Der Chaosherzkobold und Der Traumseelenfänger nicht ganz überzeugen, wohingegen vor allem Der Notenperfektmeister gut gelungen ist. Auch wenn sich die Bücher an Kinder ab 10 Jahren richten, wirken sie eher wie für Eltern, Lehrer oder interessierte Erwachsene, die sich für die oft besonderen Denkweisen betroffener Kinder interessieren.
Elysion Books, Lilly Leseherz,
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