Leon Pirat
- Beltz & Gelberg
- Erschienen: November 2006
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Eigene Träume und Traditionen schließen sich nicht zwangsläufig aus. Dass es sich lohnt, an seinen Träumen festzuhalten, zeigt Christine Nöstlingers Bilderbuchgeschichte vom kleinen Piraten Leon. Denn der möchte nur ungern in die Fußstapfen seines Vaters – dem Piratenkapitän – treten, schlägt sein Herz doch viel mehr für die Kochkunst…
Leon darf endlich mit seinem Papa, dem Piratenkapitän, hinaus auf die hohe See. Drei weitere Piraten bilden die Mannschaft an Bord des Schiffes: der Lange, der Kurze und der Dicke. Leons Papa ist schon seit langer Zeit auf der Suche nach einem Schiff, von dem sein Opa ihm erzählt hat. Es soll Kisten voll Gold an Bord gehabt haben und vor einer kleinen Insel gesunken sein, so dass aus dem seichten Wasser die Mastspitze noch herausragt.
Am liebsten hält sich Leon bei dem dicken Pirat in der Kombüse auf. Denn schließlich träumt Leon davon, auch einmal Koch zu sein. Doch der dicke Pirat macht Leon auf seine Verpflichtung aufmerksam, in die Fußstapfen seines Vaters treten zu müssen – so sei eben die Tradition. Also übt sich Leon widerwillig im Kapitänswesen.
Nun ist aber die große Schwäche des Piratenkapitäns sein Hunger und als der Dicke eines Tages durch eine riesige Welle von Bord gespült wird, beruft Leons Papa kurzerhand den Langen zum Schiffskoch, auch wenn dieser lauthals protestiert und auf sein fehlendes Talent aufmerksam macht. So kommt es, wie es kommen muss. Das erste Gericht des Langen misslingt und er flüchtet vor den wilden Beschimpfungen es Kapitäns. Dem Kurzen ergeht es nicht anders und nachdem es keine Mannschaft mehr auf dem Schiff gibt, bleibt dem Kapitän nichts anderes übrig, als selbst Hand anzulegen…
Die Kochversuche von Leons Papa misslingen jedoch derart, dass dieser schließlich fürchtet, vor Hunger sterben zu müssen. Nun muss der Piratenkapitän anerkennen, welche Bedeutung ein Koch für die Mannschaft wirklich hat, war er doch zuvor der Meinung, dass doch jeder kochen kann. Leons große Stunde ist gekommen. Er begibt sich in die Kombüse und kocht seinem Vater aus den wenigen verbliebenen Vorräten ein schmackhaftes Essen. Dieser ist daraufhin so begeistert, dass er seinen Sohn kurzerhand zum ersten Koch mit Kapitänsstatus ernennt.
Beide bemerken dabei nicht, dass sie an einer aus dem Wasser ragenden Mastspitze vorbei fahren…
Heutige Kinder wachsen doch eher selten in betont oder streng traditionsbewussten Elternhäusern auf. Dabei müssen Traditionen natürlich keineswegs gleich negative Eigenschaften anhaften. Gerade in der Vergangenheit bedeutete die Fortführung einer beruflichen Tradition zugleich die Sicherung der Existenz einer ganzen Familie oder eben die Erhaltung eines Status in der Gesellschaft. So war der Druck auf die Ausbildung der Kinder hoch und der Weg zur eigenen Berufswahl nahezu vorgezeichnet. Doch ich glaube auch heute können sich nur wenige Eltern immer davon frei sprechen, ihre Kinder nicht in eher persönlich favorisierten Bereichen zu sehen und darüber das wahre Talent ihrer Kinder zu verdrängen oder vielleicht gar nicht erst zu entdecken. Das geschieht zweifelsohne nicht immer bewusst. So ist Leon Pirat für mich also durchaus von aktueller Bedeutung, denn letztlich wünschen wir uns doch alle, dass sich unsere Kinder auch nach ihren eigenen Wünschen oder Talenten entfalten mögen und ihren ganz persönlichen Traum verwirklichen können. Doch wie sehr gelingt es uns, ihnen dafür auch tatsächlich die notwendigen Freiräume zu schaffen und ihnen auch emotional Halt zu geben?
Christine Nöstlinger nähert sich diesem Thema auf sehr humorvolle und amüsante aber nicht weniger eindringliche Weise und verlegt die Geschichte kurzerhand in das sehr streng hierarchische Piratenleben. Die Sprache ist damit auch eher wenig feinsinnig aber in ihrer Aussage präzise, wirkungsvoll und dabei sehr unterhaltend. Schnell werden der eigentlich fehlende emotionale Bezug und die Gegensätze in der Betrachtung von Traditionen deutlich. Leon versucht seinem Vater zu folgen, so sehr es ihm auch widerstrebt. Aber der Dicke – und zugleich Koch auf dem Piratenschiff – formuliert das ungeschriebene Gesetz: ";Du musst Kapitän werden, weil auch dein Opa und dein Uropa Kapitäne waren. Das nennt man Tradition, und wenn du die nicht fortsetzt, stirbt dein Papa vor Kummer!"; Welches Kind aber möchte dafür verantwortlich sein und so ist die Aussage des Vaters ";Ich sterbe vor Hunger"; der Auslöser für Leon endlich aktiv zu werden und sie bietet ihm die Möglichkeit, endlich sein wahres Talent unter Beweis zu stellen.
Der Ideenreichtum und die Erfahrung Christine Nöstlingers in der Ausgestaltung ihrer Kinderbuch-Geschichten zeigen sich nicht zuletzt in wunderbar zusammengefügten Details. Zunächst passen die Schwäche des Vaters – sein Hunger – und das Talent des Jungen eigentlich genau zusammen. Und während der Vater überhaupt kein Händchen für das Kochen hat, interessiert sich Leon nicht für das Kapitänsleben. Der für beide glücklichste und auch offensichtlichste Weg liegt also eigentlich auf der Hand. Die große Bedeutung – auch aus emotionaler Sicht – der Einigung von Leon und seinem Vater, zeigt sich darin, dass sie an dem so lang ersehnten Schiff mit dem Goldschatz unbemerkt vorüber ziehen.
Ach ja, und Leons Liebesbekundung an seinen Vater ist ein ";Nasenbiss";, denn ";Statt Küssen gibt´s bei Piraten nämlich Nasenbisse.";
Thomas M. Müller schafft farbenprächtige Bilder mit sehr schön ausgestalteten Bilderbuchszenen. Das stolze Piratenschiff fährt auf einem Meer, das mit seinem kräftigen, tiefen Blau und Wellenkanten in ";Zuckergussoptik"; – um im passenden Wortlaut zu bleiben – lecker anzusehen ist. Mögen die Gesichter seiner Protagonisten – allen voran der unrasierte Kapitän – vielleicht zu Beginn noch etwas eigensinnig wirken, merkt man schnell, dass sie gerade dadurch markanter Ankerpunkt der Illustrationen sind. Zusammen mit einigen tierischen Nebendarstellern – wie Papagei oder Hund – machen sie zudem deutlich, dass Witz, Spaß und vergnügliche Unterhaltung einen wesentlichen Beitrag leisten dürfen. Und dem ein oder anderen mögen beim Anblick der Piratencrew Erinnerungen an die Comic-Serie ";Popeye"; wach werden…
Fazit:
Wer hinter ";Leon Pirat"; ein piratenmäßiges Abenteuer mit Säbelgefechten und Meutereien vermutet, kann sich deutlicher nicht irren. Einen wahren Helden gibt es dennoch – nämlich Leon, der endlich beweisen kann, welche großes Talent in ihm steckt. Christine Nöstlinger stärkt Kinder, an ihren Träumen festzuhalten und an sich selbst zu glauben. Sie zeigt uns Eltern, wie wichtig es ist, Talente und Wünsche unserer Kinder zu sehen und ihnen die notwendige Plattform zur Entfaltung zu geben, wenn wir nicht möchten, dass unsere Kinder einen ganz persönlichen Teil von sich aufgeben oder verbergen müssen. Für richtige kleine Hobbyköche ist ";Leon Pirat"; natürlich die beste Bestätigung und Motivation – Guten Appetit!
Christine Nöstlinger, Beltz & Gelberg
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