Daan Remmerts de Vries schildert in seinem Kinderroman ";Die Nordwindhexe"; auf sehr berührende Weise, wie zwei Kinder in ihrer schweren Krankheit Freundschaft schließen. Sie wissen nicht, wie der jeweils andere aussieht, doch es entsteht eine innige Beziehung, die ihnen über die Trauer, den Schmerz und ihre Verluste hinwegtröstet. Es ist ein Buch, das unter die Haut geht und begreifen lässt, wie sehr Kinder kämpfen können und wie allein sie gleichzeitig mit ihren Ängsten und Nöten sind.
In der Mitte des Buches durch jenen grauen Vorhang getrennt, der auch die beiden Kinder Rifka und Moritz im Krankhaus trennt, erleben wir ihre Geschichte aus der Sicht des jeweils anderen. Rifka erzählt ihre Geschichte in der ersten Person. Moritz´ Geschichte wird in der dritten Person erzählt, was im Verlauf der Geschichte auch Sinn macht. Denn dort, wo Rifka nun ist, kann kein anderer über sie berichten.
Rifka, die bei ihrem Onkel ";Gol";, einem Uhrenmacher aufwächst, glaubt daran, dass ihre Eltern bei einer Abenteuerreise verschollen sind. Sie vermisst ihre Eltern, doch sie fühlt sich bei ihrem einfühlsamen, wenn auch etwas schrulligen und tollpatschigen Onkel wohl. Dennoch führen Rifka und ihr Onkel ein sehr zurückgezogenes Leben und das Leben des Mädchen ist geprägt durch Bücher und das Fernsehen.
Rifka hat nur eine Schulfreundin, die mit ihre die Pausen allein im nahegelegenen Park verbringt. Rifka glaubt, dass sich ihre Freundschaft mit dem Tag verändert hat, als Rifka ihrer Freundin die vielen Flecken auf den Armen zeigt, die sie stets mit einem Langarm-Shirt gut zu verdecken weiß. Am ganzen Körper hat Rifka diese Flecken und ihr Onkel reibt sie mit immer wieder neuen Cremes ein, die jedoch immer nur für kurze Zeit helfen.
Schließlich erscheinen erste Flecken auch in Rifkas Gesicht, für alle sichtbar. Die Situation spitzt sich zu, als Rifkas heimlicher Schwarm von ihr als ";Fleckenweltmeisterin"; spricht. Rifka flieht nach Hause zu den vielen Uhren ihres Onkels und kehrt nicht mehr in die Schule zurück. Ihre einzige Gesellschaft sind die zahlreichen Uhren und sie gibt ihnen Namen, denn sie alle haben ihre eigene Zeit und ihre eigene Art, zu schlagen. Wenn Rifka einmal das Haus verlässt, dann nur in ihrer Regenjacke, deren Kapuze sie sich tief in das Gesicht zieht, so dass sie niemand ansehen kann. Rifkas Zustand verschlechtert sich weiterhin und eines nachts erscheint ihr ein Geist, der aus einer der großen Uhren kommt. Sie fragt ihn, wie es sei, Tod und ein Geist zu sein und der Geist antwortet ihr, dass man dann alles Schwere zurücklasse. Von diesem Tag an versucht Rifka es jede Nacht, ihren Körper zu verlassen, ihn krank und geschunden zurück zu lassen, um mit ihrer Seele, ihrem Geist, auf nächtliche Reisen zu gehen. Als ihr Onkel durch Zufall von ihren Ausflügen erfährt und begreift, welches Motiv hinter diesem, Rifkas Ausweg steckt, bringt er seine Nichte in ein Krankenhaus. In dem Zimmer, auf das sie gebracht wird, liegt bereits ein Junge: Moritz. Da Rifka auf keinen Fall will, dass sie der andere Patient sieht, wird ihr Bett mit einem grauen Vorhang verhängt.
Moritz lebt allein mit seiner Mutter, seit sie sich von seinem Vater getrennt hat. Er ist einsam und hat keine Freunde. Er ist nur allzu tollpatschig und gibt sich für so manchen Kummer, den seine Mutter hat, die Schuld. Immer häufiger passieren ihm die dummen Missgeschicke, ohne dass er erklären könnte, wie es dazu kommen konnte. Dann werden die großen, schwarzen Schatten immer größer und Moritz leidet unter regelrechten ";Filmrissen";. Er kann sich oftmals nicht daran erinnern, wie er nach Hause gekommen ist, wie die Stunden in der Schule vergehen, was der Lehrer sagt, warum die Mitschüler lachen: Er kann nichts mehr in Zusammenhang bringen. Eines Nachmittags geht es Moritz sehr schlecht. Er will etwas essen, doch dann fällt auf unerklärliche Weise die Ketchup-Flasche auf den Küchenboden. Er friert, geht in die Badewanne, übergibt sich. Jetzt erst wird seine Mutter auf seinen Zustand aufmerksam und er wird ins Krankenhaus gebracht. Er ist noch weit weg. Man verabreicht ihm einen Tropf. Die Mutter kommt und geht – Moritz denkt, dass seine Mutter ihn loswerden möchte, weil er ja so viel kapputt macht, und nicht mehr wiederkommen wird. Verschwommen bekommt Moritz mit, dass ein Mädchen auf sein Zimmer gebracht wird. Die Krankenschwester sagt, sie habe am ganzen Körper Schuppen und wolle daher nicht gesehen werden. Moritz versteht, dass hinter dem grauen Vorhang ein Mädchen in seinem Alter liegt, das sehr krank ist – wie er.
Zunächst sehr zaghaft, beginnen die beiden Kinder von sich zu erzählen, ihre Ängste und schmerzhaften Erfahrungen auszutauschen. Rifka, die Moritz ihrer eigenen Beschreibung nach Schneewittchen nennt, erzählt Moritz die Geschichte von der Nordwindhexe, die die Kinder krank macht und nachts um die Häuser schleicht. Sie schließen einen Pakt gegen die Nordwindhexe und versprechen einander, wenn sie wieder gesund sind, sich gemeinsam auf die Suche nach Rifkas Eltern zu machen.
Moritz erzählt von seiner Außenseiter-Rolle, von seiner Einsamkeit mit seiner Mutter, die keinerlei Gespür für die Sorgen und Nöte ihres Jungen hat, von dem oberflächlichen Verhältnis zu seinem Vater, der Moritz in seiner jetzigen Situation mehr anstrengt als tröstet. Er erzählt von seiner Ungeschicklichkeit und davon, dass er davon überzeugt ist, dass er allein schon durch seine Willenskraft Dinge herunterfallen lassen kann. Moritz überwindet seine Schüchternheit und erzählt zum ersten Mal einem anderen Menschen, wie es in ihm aussieht. Dass er das Mädchen hinter dem Vorhang nicht sehen kann, er ihren Blicken nicht ausgesetzt ist, erleichtert ihm die Offenheit.
Und ebenso öffnet sich Rifka. Sie vertraut auch Moritz schließlich an, dass sie nachts ihren Körper verlassen und auf Reisen gehen kann – und tatsächlich: Eines nachts sieht er eine durchscheinende Gestalt am Fenster. Doch noch während es Moriz langsam wieder besser geht und er in das Leben zurückkehrt, verschlechtert sich Rifkas Zustand. Als er endlich mit ersten wackeligen Schritten gehen kann, führt ihn sein erster Gang zu Rifkas Bett, wo er hinter den grauen Vorhang schaut, um sie endlich zu sehen. Doch Rifka ist nicht mehr dort und er wird sie auch nicht mehr sehen.
Die Geschichte und das Ende spricht für sich: Es ist wahrlich kein leichter Stoff, den sich Daan Remmerts de Vries hat einfallen lassen. Und doch ist es ein so poetisches und in vielen Teilen so wahres und schönes Buch, dass es einem auch im positiven Sinne unter die Haut geht. Die Kinder geben sich in der Zeit, in der sie so nebeneinander ";auf Messers Schneide"; liegen, etwas, das ihnen niemand, noch nicht einmal der sensible Onkel Gol, hätte geben können: Sie verstehen. Sie verstehen das Leid, müssen nicht darüber reden, sich nicht erklären. Sie wissen. Sie reden stattdessen darüber, was Hoffnung macht, was sie stark macht, um gegen die Nordwindhexe anzukämpfen. Moritz siegt, doch Rifka wählt den bekannten Ausweg aus ihrem Schmerz für immer.
Dies ist sicherlich ein Aspekt des Buches, der sehr kontrovers diskutiert werden kann. Kann man es für gut halten, dass ein Kind den Tod als einen Ausweg aus der Krankheit, aus dem Schmerz wählt? Wäre ein ";Happy-End"; auf beiden Seiten nicht ";kindgerechter";? Aber was ist mit den Kindern, die einen Weg finden müssen, mit dem Unvermeidlichen zurecht zu kommen. Haben sie eine Wahl? In bestimmter Hinsicht vielleicht doch: Sie haben die Wahl, auf welche Weise sie diesen letzten Weg beschreiten wollen. Orte, wie Krankenhäuser und Kinderhospize kennen viele dieser Wege und Geschichten.
So wie das Leben ist auch der Tod etwas, das für jeden Menschen individuell zu betrachten ist. Rifka ist nicht das Opfer; sie selbst entscheidet sich für diesen Weg, weil sie weiß, dass es da, wo sie sein wird, besser sein wird. Es ist ihr Entschluss und ihre Art, mit ihrer ausweglosen Situation fertig zu werden. Und es ist Moriz´ Entschluss zu kämpfen und sich mit seiner Mutter und der Welt auseinander zu setzten. Durch Rifkas behutsame Art, ihm endlich zuzuhören und ihm auf diese Weise den Mut zu geben, sich selbst wahrzunehmen und seinen Empfindungen Priorität einzuräumen, stellt sich Moritz sogar dem offenen Gespräch mit seiner sprachlosen und unbeholfenen Mutter. Er ist durch seine schwere Krankheit gereift und weiß, dass es so nicht weitergehen kann. Er, der Junge, sagt seiner Mutter, dass sie in Zukunft mehr miteinander reden müssen.
Daan Remmerts de Vries, 1962 in den Niederlanden geboren, ist bekannt durch seine zahlreichen Kinderbücher. ";Die Nordwindhexe"; wurde 2005 in den Niederlanden mit dem ";Silbernen Griffel"; ausgezeichnet. De Vries versteht es auf beeindruckende Weise, die Welt aus der Sicht von Moritz und Rifka zu beschreiben: Ihre Fragen, ihre Ratlosigkeit und ihre Wege, sich auf das Unbegreifliche einen Reim zu machen, berührt tief. Kinder verdienen unseren Respekt, denn sie wollen mit der Thematik umgehen und sie tun dies, wenn sie keine Unterstützung finden, notfalls auch auf ihre ganz eigene, und leider manchmal auch einsame Art und Weise. Daan Remmerts de Vries lässt einen Mikrokosmos entstehen, der voller Poesie und Symbolik ist. Gerade diese Einblicke in diese kindliche Welt, die den beiden Kindern Trost und Halt in ihren aus den Angeln geratenen Leben geben, schmerzen und lassen verstehen, dass Vertrauen und Ehrlichkeit die besten Mittel sind, um sie auf ihrem Weg durch die Krankheit zu begleiten.
Fazit:
Ein Buch mit einem sehr ernsten Thema, das uns alle nachdenklich werden lässt. Das Tabuthema Krankheit und Tod wird hier offen dargestellt und es macht sehr betroffen, die kindliche Denkweise hinter dem Geschehen zu erkennen. Schonungslos ehrlich und gleichzeitig voller Hoffnung trägt es uns aber zu der positiven Erkenntnis, dass Kinder stark sind und ihren eigenen Weg finden werden – vor allen Dingen, wenn andere, nahestehende Menschen sie dabei unterstützen. Es ist daher vor allem auch für Kinder ein bedeutsames Buch, denn es wirft viele Fragen auf und verlangt danach, miteinander in den Dialog zu kommen. Ein Buch, mit dem Kinder über sich und über die Gefühle anderer lernen und wachsen können.
Daan Remmerts de Vries, Dressler
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