Bart Moeyaert, selbst Jüngster von sieben Brüdern, schreibt in seinem Buch ";Brüder – Der Älteste, der Stillste, der Echteste, der Fernste, der Schnellste und ich"; über alltägliche und nicht so alltägliche Begebenheiten aus seinen Kindertagen. Manchmal rätselhaft poetisch, mal komisch pointiert, weiß er so manches aus dem Leben von sieben nicht ganz so wilden Jungs – wie sie es selbst wohl gerne gewesen wären- zu erzählen. Und nicht wenige seiner wunderbaren Schilderungen wecken beim Leser kostbare Erinnerungen an jene Sichtweise der Dinge, wie sie nur Kinder haben können.
Bart Moeyaert, der 1998 für sein Buch ";Bloße Hände"; unter anderem den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielt, veröffentlichte 1999 unter dem Originaltitel ";Broere"; in den Niederlanden sein Buch über seine Kindheit als Jüngster von sieben Brüdern. Nun, im Jahr 2006, erscheint die deutsche Ausgabe, übersetzt von Mirjam Pressler, bei dem Hanser Verlag. In den 42 kleinen Episoden, Momentaufnahmen seines Kinderalltags, ist alles enthalten, was für einen kleinen Jungen unter so vielen großen Brüdern wichtig ist.
Und wichtig ist beispielsweise die Tatsache, dass seine Mutter über den Tag Gerüche speichert, während sein Vater nur nach sich selbst riecht. Aber auch die Begebenheit, wie die Jungs sich gemeinsam auf die Lauer legen, um von dem Bäckereiwagen in aller Heimlichkeit einen Apfelkuchen zu stibitzen, stellt ein kleines Lehrstück des Lebens dar. Schwerwiegend zeigt sich ihm jedoch immer wieder die bittere Erkenntnis, dass er sich mit seinen großen Brüdern nicht messen kann. Er wird nie der erste, der stärkste, der schnellste sein – aber manchmal ist er der Klügste; nicht dass seine Brüder das je zugegeben hätten. So erliegt er als einziger nicht der allgemeinen Euphorie über das tolle Boot, das sich die Brüder gekauft haben und das sie obendrein auf den vielsagenden Namen ";Optimist"; getauft haben. Es wird kaum mehr als zwei Brüder gleichzeitig tragen können – das weiß er sofort. Auch seine Zweifel an der unter den Brüdern anerkannten Tatsache, dass eine Gemüsezwiebel, steckt sie nur lange genug unter die Achselhöhlen, Fieber auslösen kann, werden nur allzu bald bestätigt.
Er sieht Dinge, die die anderen nicht so sehen. Er erkennt die vielen kleinen Wunder um sich herum und erahnt damit bereits seine Gabe, diese Dinge klar erfassen und beschreiben zu können. So begnügt er sich meist im Stillen mit seiner Sicht auf die Welt, denn keiner von den Großen schenkt dem Jüngsten wirklich Gehör. Stets im Schlepptau der Fantasien und Abenteuer der großen Brüder macht er sich selbst einen Reim auf die Dinge. Sollen seine Brüder sich ruhig Gedanken über weltbewegende Erfindungen machen, die sie in die Geschichte eingehen lassen könnten. Er weiß und nimmt manchmal auch die Hähme in Kauf, wenn er von seinem Wissen spricht. Aber meistens ist er doch immer viel zu klein, viel zu jung, um dabei sein zu oder um verstehen zu können. Denn eines ist doch sonnenklar: Jeder der älteren Brüder ist froh, dass er noch einen jüngeren Bruder hat, dem er überlegen sein kann.
Doch wenn es gegen andere geht, dann halten die Brüder zusammen wie Pech und Schwefel. Sie schließen den stillen Pakt schneller, als so mancher Außenstehende dies durchschaut und führen ihn in aller Eintracht aufs Glatteis. Und in noch einer Sache sind sich die Brüder vollkommen einig, und zwar in ihrer Liebe zur Mutter. Auch wenn sie – oder vielmehr der Jüngste von ihnen – nicht immer verstehen, warum ihre Mutter manchmal so ist wie sie ist.
Vor allen Dingen erzählt Bart Moeyaert aber von einer glücklichen Zeit, einer unbeschwerten Kindheit und magischen Momenten, in denen nichts mehr zählt, als das Gefühl, quicklebendig zu sein und einander zu haben.
Bart Moeyaert sagt selbst von sich ";Pippi Langstrumpf hat mich gefüttert, aufgewachsen bin ich in einem schwedischen Dorf, das Bullerbü heißt, und ansonsten bin ich durchtränkt von warmherzigen, schwedischen Müttern, schwedischen Bauernhöfen und strengen schwedischen Wintern. Manchmal denke ich, dass ich Astrid Lindgren in meinen Genen habe"; – eigentlich ist Bart Moeyaert ja 1964 in Brügge geboren und zählt in seinem Heimatland Belgien und in den Niederlanden zu den namhaften Kinder – und Jugendbuchautoren. Doch was die ";astrid-lindgrenschen Gene"; angeht, kann ich ihm nur beipflichten. Wunderbar dicht und lebendig erzählt er die vielen kleinen Auszüge aus dem Leben des Jüngsten von sieben Brüdern. Er beschreibt die Situationen und Stimmungen so wahr und und ohne jede Übertreibung, dass man sich wirklich an die warme Sprache von Astrid Lindgren erinnert fühlt. Dabei geraten wir unversehens ganz in die Perspektive des kleinen Ich-Erzählers und ganz so, wie ein Junge es erzählen würde, wäre er der Worte Bart Moeyaerts bereits mächtig, werden die kurzen Begebenheiten geschildert. Es versteht sich von selbst, dass wir schon mittendrin im Geschehen sind, noch ehe wir so richtig begreifen, worum es sich nun handeln mag. Vieles liegt zwischen den Zeilen verborgen – das, was wir Erwachsene so sehr zu verstehen trachten – doch findet es zum Ende der kurzen Episode hin einen meist pointierten Abschluss. Unglaublich bewußt nimmt der Junge das Leben auf; gibt Stimmungen, Gefühlen und Empfindungen Namen, die wir sofort verstehen. Da wird der Aufenthalt unter dem Esstisch, wo er, wenn er den Kopf zur Seite dreht, das Zeichen des Zmmermanns ";O.v."; sehen kann, zu einer eigenen Philosophie.
Die vielen alltäglichen Kleinigkeiten machen die Augenblicke magisch und die Art, wie Bart Moeyaert sie mit Worten zu beschreiben weiß, machen sie kostbar – auf eine Weise, die uns in seinen Mikrokosmos eintauchen lassen. Wie wachsam muß Bart Moeyaert das Leben in Worten gesammelt haben, jene kindliche Bewußtseinsebene, in der alles möglich zu sein scheint und Unverständliches durch die Kraft der Fantasie beantwortet wird. Mit einem Augenzwinkern erinnert er uns an eigene unschuldige Kindertage in der eine Kröte eine bedeutende Entdeckung ist, die Nachbarskinder eine ernste Bedrohung und ein Vermögen zwischen den Bodendielen im Rahmen des durchaus Möglichen liegen. In seiner glücklichen, wohlbehüteten Kindheit liegt stets der Wunsch nach Verwegenheit und Abenteuern. Aber natürlich nur so lange, bis der samstägliche Pfannkuchen wieder brave Kinder aus ihnen macht und sie sich nach Hause trollen.
Aus dem, was er noch nicht versteht, wird kein Geheimnis gemacht aber es wird auch nicht näher erklärt, so dass wir es uns aus den Fragmenten seiner Andeutungen selbst eine Antwort konstruieren müssen. Vieles bleibt unvollständig und nicht selten stellen sich auch dem erwachsenen Leser eine ganze Reihe von Fragen, die die reinen ";Flashbacks"; nicht beantworten können. Die Schilderungen stehen vor allen Dingen zu Anfang des Buches in keinem Zusammenhang, so dass sie wie eine willkürliche Aneinanderreihung von Erinnerungsfetzen wirken. Erst zum Ende hin stellen sie einen stärkeren Bezug zueinander her, was Lesern der empfohlenen Altersgruppe der ab Zehnjährigen den Zugang deutlich erschweren wird. Auch ich habe zunächst eine in sich schlüssig aufgebaute Handlung vermisst. Und ich finde es immer noch schade, dass diese kleinen Schätze und manchmal auch urkomischen Interaktionen der Brüder nicht in eine Geschichte mit fesselndem Spannungsbogen eingebettet sind. Auch die Tatsache, dass er seinen Brüdern in seinen Erzählungen keine Namen gibt, sondern nur von ";mein einer Bruder"; oder von ";mein anderer Bruder"; spricht, macht den Zugang gerade für Kinder nicht gerade leicht.
So bleibt es ein Buch, das sich der ruhigen Rückschau verpflichtet, dem Schwelgen in kindlichen Weltanschauungen und ihrer ganz eigenen Magie. So manches berührt und so manches amüsiert. Vor allen Dingen aber wird es aber Erwachsenen, die selbst das vielleicht zweifelhafte Glück, das jüngste Kind gewesen zu sein, gefallen. Immer – und zwar nur aufgrund des Alters – stets den anderen unterlegen zu sein, ist wirklich kein leichtes Los. Und so können wir es dem Jüngsten auch verzeihen, dass er angesichts der Tatsache, dass er einmal der erste war, der vom Tod der Großmutter erfährt, etwas zu euphorisch beim Überbringen der traurigen Botschaft reagiert hat.
Fazit:
";Brüder"; ist ein Buch, das aus einem Jahr des Jüngsten von sieben Brüdern erzählt. Es sind die alltäglichen Dinge denen Bart Moeyaert mit seinen Worten Magie verleiht und seine Sprache ist, wie die einfachen Dinge des Lebens, klar und rein. Dennoch liegt unter dieser Klarheit und vermeintlichen Unmißverständlichkeit noch vieles, das sich überwiegend der erwachsenen Leserschaft erschließen wird. Die achtsamen Rückblicke auf vergangene Tage werden trotz der wunderbaren Sprache und der wohlgesetzen Worte Moeyaerts ganz aus Kinderperspektive wiedergegeben. Diese kindliche Sicht der Dinge wird nicht durch Erklärendes durchbrochen, noch erhält das Geschehen eine verbindende Handlung als ";Unterbau";, was das Buch zum einen zwar sehr authentisch macht aber aus Kindersicht wenig Anreize bietet, sich über die gerade zu Anfang sehr bindungslosen Schilderungen hinweg zu begeistern. Auf jeden Fall aber ist es bereits erwachsenen, aber jung gebliebenen ";Jüngsten"; sehr zu empfehlen!
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