[ab 5 Jahren]
Was ";Das Tagebuch der Anne Frank" für die Sekundarstufe I, ist Rosa Weiss für die Primarstufe: Ein bewegendes Buch mit beeindruckend realistischen Bildern, das die Geschehnisse der NS-Zeit thematisiert und uns diese aus der Sicht eines Kindes miterleben lässt.
Rosa Weiss ist ein deutsches Mädchen und wächst zur Zeit des zweiten Weltkrieges in einer kleinen deutschen Stadt auf. Zunächst ist der Tag des Einmarsches der Soldaten für das Kind nichts anderes als ein Tag mit bunten Fahnen und winkenden Menschen. Erst als Rosa später beobachtet, wie ein kleiner Junge gefangen genommen und mit einem Lastwagen abtransportiert wird, wird das Mädchen neugierig und beschliesst, herauszufinden, wohin der Junge gebracht wird. Sie verfolgt den Wagen, bis sie an einem Stacheldraht ankommt. Dahinter sieht Rosa graue Baracken und viele Kinder. Das Mädchen gibt dem kleinsten von den Kindern den Rest ihres Schulbrotes und geht von nun an jeden Tag nach der Schule zu den Baracken und verteilt dort so viele Brote an die Kinder, wie sie tragen kann.
An dem Tag, als die Soldaten, denen die Menschen zuerst zugejubelt haben, die Stadt wieder verlassen, und die meisten Bewohner des Dorfes ebenfalls, läuft Rosa wieder in den Wald, zum Maschendrahtzaun. Doch die Baracken sind verschwunden, der Stacheldraht zerstört und die Kinder weg. Traurig steht Rosa an den Zaunresten, als plötzlich ein Schuss fällt...
Der Titel des Kinderbuches ist verspielt, lässt die Ernsthaftigkeit und Problematik des Buches nicht erahnen: Zwei Farben als Vor- und Nachname der Hauptfigur. Er bedeutet aber auch, dass Rosa etwas weiss. Und darauf kommt es an, denn spielerisch ist dieses Buch ganz und gar nicht. Es erzählt kompromisslos vom Krieg. Rosa lebt in und mit diesem Krieg, nimmt ihn aber nicht als solchen wahr. Sie erlebt die Euphorie des Kriegsbeginns und bemerkt den Stimmungswandel, versteht aber nicht, was eigentlich passiert, die Hintergründe der Ereignisse sind ihr nicht bekannt.
Der Leser erfährt die Geschichte aus Rosas Perspektive. Rosa erlebt die Stadt und die Geschehnisse des Krieges anders als alle anderen Mitbürger. Hat man nicht das Hintergrundwissen um die NS- Zeit, kann es durchaus sein, dass man genauso wenig versteht, wie das Kind. Auch der Text, nacherzählt von Mirjam Pressler, benutzt die Wörter Krieg, Nationalsozialismus oder Konzentrationslager nicht. Er erzählt nur das, was das Mädchen erlebt: von Soldaten und Panzern, von misstrauischen Blicken und den hinter Stacheldraht immer dünner werdenden Kindern mit dem gelben Stern, denen Rosa jeden Tag nach der Schule Essen bringt - ohne etwas zu verstehen.
Dieses Buch war oft und lange in der Kritik. Man fragte sich ob man Kindern zur Aufarbeitung der Problematik des zweiten Weltkrieges solche Bilder zumuten sollte. Da das Buch zwar aufklärt - jedoch keine Fragen beantwortet und Rosa Weiss auch noch zum Schluss von Soldaten erschossen wird (was das Buch nur verschlüsselt wiedergibt), ist es ein schweres Thema, das Kinder erst einmal verdauen müssen. Eine intensive Begleitung ist hier daher unbedingt angezeigt.
Die detailreich ausgearbeiteten Illustrationen zeigen die Sieg-Parolen an den Mauern der kleinen Stadt, Rosas Verlorenheit im Heil-Jubel ebenso wie in der Endzeit-Panik und alle Arten von Soldaten: patriotische und kriegsmüde, winkende und hinkende, dann auch Kindersoldaten und schliesslich, bei Rosas letztem Gang zum Stacheldraht, die Soldaten der Gegenseite, die auf alles schiessen, was sich bewegt ...
Die Bilder des Buches nehmen jeweils eine ganze Seite ein und wirken, dem Thema entsprechend, sehr beklemmend. Durch die Illustrationen entsteht in dem Betrachter der Eindruck einer Dokumentation dieser Zeit: Gedeckte Farben und realistische Details. Die Illustrationen stellen den Bezug zum realen Ereignis her. Die Figur der Rosa steht vor diesem Hintergrund wie in einer Bildmontage: leuchtend rote Schleife, blonde Haare, rosafarbener Rock.
Die Sprache ist für Kinder emotional fassbar, verliert sich nicht in Beschreibungen, sondern übermittelt dem Leser nur das, was auch Rosa Weiss erfährt.
Innocenti hat nicht, wie ihm von vielen Kritikern vorgehalten wurde, ein authentisches Bild des Faschismus in Deutschland liefern wollen, sondern eine fiktionale Geschichte mit authentischem Hintergrund erzählt. Der Holocaust ist nach wie vor ein unbewältigtes deutsches Erbe. Auch die heutige Kindergeneration muss sich mit diesem Erbe auseinandersetzen; freilich muss das in einer für Kinder nachvollziehbaren Form geschehen. Sicherlich werden sich immer noch Lehrer und Eltern fragen, ob dieses Buch für Kinder im Grundschulalter geeignet ist... Natürlich sollten Eltern individuell entscheiden, ob ihr Kind für eine solche Problematik bereit ist, denn sicherlich entstehen mit diesem Lesestoff mehr Fragen, als beantwortet werden können. Als Lektüre für eine Grundschulklasse halte ich dieses Buch für sehr geeignet, da die Beschäftigung mit der Thematik im Klassenverband erfolgen kann und zudem auch zu Hause noch ";nachbereitet" werden kann.
Allen Eltern kann ich aber nur anraten, ihr Kind nicht mit diesem Buch alleine zu lassen, denn die Bilder sind sehr dominant und wirken auf Kinder schnell bedrückend.
";Rosa Weiss" wurde ausgezeichnet mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendbücher 1987 sowie dem SPD-Jugendmedienpreis "Das Rote Tuch".
Fazit:
";Ich habe versucht", sagte Roberto Innocenti über sein Werk, ";in Bildern einzufangen, wie ein Kind Krieg erlebt, ohne wirklich zu begreifen." Mit Rosa Weiss ist dem Illustrator ein Kinderbuch gelungen, das eine wahre, wenn auch bittere Authentizität wiedergibt.
Mit dem neu von Mirjam Pressler nacherzähltem Text ist dieses wichtige Buch endlich wieder lieferbar. Für Kinder verständlich, weil bildlich und emotional erfassbar, wird hier vom Elend des Krieges erzählt und von der richtigen Handlungsweise, die dennoch in den Tod führen kann.
Meiner Meinung nach ist dieses Kinderbuch ein wichtiger Beitrag, der durch seinen Bezug zu Kindern zu verdeutlichen vermag, was Krieg bedeutet und was die Menschen damals anderen Menschen angetan haben. Die Zeit des Holocaust ist auch für folgende Generationen ein schweres Erbe, das niemals in Vergessenheit geraten darf.
Roberto Innocenti, Sauerländer
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