Rissi ist ein ganz normales Kind, könnte man denken. Wären da nicht ihre ehrgeizigen, eigentlich stinknormalen Eltern, die seit der Geburt des Kindes auf ein Wunder warten. Und dann geschieht es: Rissi weiß einfach alles: wie viele Zähne der Mensch hat, wie lang ein Tag auf dem Neptun dauert und was das Wichtigste ist, wo der Dodo einst gelebt hat. Doch wie kann ein neunjähriges Kind soviel Wissen speichern? Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen, oder?
Die überspannten Erwartungen stolzer Eltern an ihren Nachwuchs manifestieren sich im schlimmsten Fall bereits in der Wahl des Vornamens. Seit Lisa schwanger ist, verfolgen Tonnus und seine Frau alle Sendungen im Fernsehen, um ihrem Kind den Namen einer berühmten Persönlichkeit zu geben. Zum Glück wird das Baby nicht Illissibis genannt. Doch Tonnus fällt auf dem Meldeamt im Rathaus einfach kein Name von der doch so sorgfältig angelegten Liste ein. Und so nennt er sein Kind kurzerhand Rissi Demonta. Nicht nur der Beamte im Rathaus ist geschockt, auch Lisa muss diesen Schicksalsschlag verkraften. Doch wo steckt in Rissi das Promi-Potential? Womit könnte sie berühmt werden? Fragen, die Rissis Eltern einfach nicht loslassen. Dabei leben Tonnus und Lisa mit ihrem Kind glücklich und zufrieden. Tonnus mag seine tägliche Arbeit bei der Abrissfirma, denn seinem Job hat Rissi ja ihren einmaligen Namen zu verdanken. In den Trümmern findet Rissis Vater noch viele brauchbare Gegenstände, die Lisa in ihrem kleinen Zweite Hand - Laden verkauft. Manchmal bergen diese alten Dinge auch ungeahnte Überraschungen. Rissi interessiert sich für alle Überbleibsel, die nach einem Abriss überleben. Sogar für ihren Schulvortrag wählt Rissi kein lebendes Tier. Sie porträtiert den ausgestorbenen Dodo. Allerdings soll sie ihr Referat auswendig vortragen und das ist nicht so einfach. Tonnus letztes Abrissprojekt war ein altes Theater. Er kann einiges bergen, was in dem maroden Gebäude zurückgelassen wurde: alte Programmhefte, Fotos und Kleidung. Allerdings ahnt er nicht, dass noch jemand mit dem alten Krempel mitgekommen ist.
Als Rissi ihren Dodo-Text den Eltern aufsagen will, scheint ihr Kopf leer zu sein. Doch plötzlich flüstert eine Stimme aus dem großen Sessel die richtigen Worte in Rissis Ohr. Tonnus und Lisa sind nun der Meinung, sie hätten die besondere Fähigkeit ihrer Tochter ergründet. Rissis phänomenales Gedächtnis ist für Tonnus und Lisa eine "innermenschliche Entdeckung". Doch hinter dieser Offenbarung steckt ein uralter, dünner, verstaubter Mann, der im Theater einst Souffleur war. Das Theater war sein Zuhause. Als der Spielbetrieb eingestellt wurde, konnte er nicht mehr als Vorsager arbeiten. Nun ist der Mann furchtbar sauer auf Tonnus, dem er etwas antun will, da er ihm seine Existenz genommen hat. Rissi hat Angst um ihren Vater und einen zündenden Einfall. Sie gibt dem Vorsager die Gelegenheit, seinen Beruf wieder auszuüben ohne zu ahnen, welche Folgen diese Entscheidung haben könnte. Sie wird den Eltern angeblich auswendig gelerntes von "Hamlet" bis hin zu den handlichen Quizbüchern vortragen und der kleine Mann soll vorsagen. Der alte Mann hält sich im Verborgenen und lernt für Rissi ihre Texte. Rissis Eltern, die ja gern und viel fernsehen, kommen nun auf die Idee, dass ihre begabte und allwissende Tochter als Kandidatin bei der Fernsehshow Matsch oder Millionen mitraten soll. Der alte Mann verspricht Rissi zu helfen, und erwartet von ihr einen bestimmten Geldanteil, den die Eltern eigentlich für sich schon verplant haben. Allerdings geht es in dieser Show mehr als peinlich zu. Den Teilnehmern werden die Sachen zerrissen, wenn sie die Antworten nicht wissen, ( darum sollte man auch immer eine hübsche Unterhose tragen) und sie werden dann auch noch mit Matsch überhäuft.
Da Rissis Eltern in ihrer Euphorie nichts hinterfragen und ihrer Tochter, die sich ja nur Sorgen um den Vater macht, blindlings die erhoffte Begabung abnehmen und ihnen die Aussicht auf Berühmtheit den Verstand verkleistert hat, gerät Rissi in größte Schwierigkeiten. Nun heißt es zittern und hoffen, dass Rissi ihren vorsagenden Schatten nicht aus den Augen verliert. Doch der riesige Turm der Elternerwartungen klappt schnell zusammen und Rissis schwere Verantwortung fällt endlich von ihr ab. Am Ende klärt sich alles auf und Rissi sitzt im Einklang mit ihren Eltern auf dem durchgescheuerten Sofa. Alle sind froh, dass sie einander haben und lieben - einfach so.
Die niederländische Kinderbuchautorin Joke van Leeuwen erhielt für Deesje" (Deesje macht das schon, Beltz & Gelberg, 1987) 1988 den "Deutschen Jugendliteraturpreis". Seither hat sie mit ihren oftmals allegorisch-märchenhaften Geschichten viele Leser erreicht. Mit dem Kinderbuch " Weißnich ", ebenfalls beim Gerstenberg Verlag erschienen und jetzt frisch nominiert für den ";Deutschen Jugendliteraturpreis 2006", überzeugte die Autorin durch ihre überbordende Fantasie, ihre Lust am Fabulieren und ihre Zeichnungen. Joke van Leeuwens witzig illustrierte Geschichten spielen, wie auch die um Rissi, halb in der Realität halb in einer konstruierten Welt und sie haben Tiefgang. Die entblößende Quizshow könnte allerdings der verqueren Fantasie eines Fernsehmenschen entsprungen sein, obwohl auch sie nur erdacht ist. Kopfschüttelnd wundert sich der Leser eigentlich nur über die blöden Erwachsenen mit ihren Forderungen und Hoffnungen, die sie in ihre Kinder projizieren, ohne ihnen etwas Bemerkenswertes zu geben. Die einfache Erwartung eines Kindes an seine Eltern so geliebt zu werden, wie es ist, schmerzt. Der Spagat zwischen Schein und Sein, Wissen und Nichtwissen belasten Rissi und den Leser zunehmend, wobei der schwungvolle Erzählfluss der Geschichte Leichtigkeit und Spannung verleihen. Der hintersinnige Humor der Autorin ist das Sahnehäubchen. Um ehrlich zu sein: Dieses Buch richtet sich mehr an Eltern als an Kinder!
Fazit:
Joke van Leeuwen ist mit ihrem Sprach- und Wortwitz eine wundervolle Parodie auf den Zeitgeist gelungen: die ewige Sucht der Menschen etwas Besonderes zu sein, außergewöhnliche Fähigkeiten zur Schau zu stellen und um jeden Preis berühmt zu werden. Rissi, das Kind, das angeblich alles weiß, steht im Rampenlicht und durchlebt diesen Prozess mit allen Hochs und Tiefs. Einerseits schmerzt der Erwartungsdruck von Tonnus und Lisa und andererseits will das Mädchen ( wie jedes andere Kind auch ) die Hoffnungen der Eltern nicht enttäuschen. Aber zum Glück betrachtet die Autorin diese gesellschaftliche (Fehl-)Entwicklung von der komischen Seite und stimmt den Leser doch nachdenklich.
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