Der kanadische Klassiker für jüngere Leser neu erzählt – funktioniert das?
Die Geschwister Marilla und Matthew Cuthbert wollen eigentlich einen Jungen adoptieren, der ihnen auf ihrer Farm helfen soll. Als Matthew diesen am Bahnhof abholen will, steht auf dem Bahnsteig zu seiner Überraschung kein Junge, sondern ein quirliges, rothaariges Mädchen, das ununterbrochen redet wie ein Wasserfall: Anne Shirley mit einem (stummen) E am Ende des Vornamens.
Der weichherzige Matthew nimmt sie zwar mit nach Hause, seine strenge Schwester Marilla will sie jedoch postwendend gleich am nächsten Tag zurückschicken, eine Aussicht, die Anne fast das Herz bricht, hatte sie doch geglaubt, endlich ein Zuhause zu haben. Zum Glück ändert Marilla ihre Meinung und Anne kann auf Bewährung bleiben. Leider eckt sie in ihrer neuen Heimat immer wieder mit ihrem ungestümen Wesen an.
Auch die Freundschaft mit der ruhigeren Diana, die in Annes Alter ist, viele Interessen mit ihr teilt, und schon bald Annes beste Freundin wird, kann daran nichts ändern. Wird Anne trotzdem auf Green Gables ein festes Zuhause finden?
Eine gelungene Umsetzung
Nicht zuletzt durch die erfolgreiche Netflix-Reihe Anne with an E ist dieser im nordamerikanischen Raum längst zum Kultbuch gewordene Klassiker auch dem deutschen Publikum neu vorgestellt worden. Von daher lag es wohl nahe, diesen Longseller aus dem Jahr 1908 in einfacherer Sprache nachzuerzählen und so einem breiterem Publikum zu erschließen. Diese gewagte Rechnung ist glücklicherweise aufgegangen und an dieser Stelle gebührt der Autorin Kallie George und für die deutsche Ausgabe der Übersetzerin Yvonne Hergane ein großes Lob, ist es ihnen beiden doch auf hervorragende Weise gelungen, den Zauber des Originals einzufangen:
Generationen von Lesen schätzen an den Anne-Büchern (der erste Band war so erfolgreich, dass aus ihm eine ganze Serie mit mehreren Bänden wurde) neben der liebenswerten Anne mit ihrer positiven Lebenseinstellung, ihrem Einfallsreichturm und ihrer manchmal ausufernden Fantasie die vermittelten zeitlosen Werte wie Ehrlichkeit, Zusammenhalt und Freundschaft. Obwohl der Originaltext stark verkürzt wurde, findet der Leser auch in dieser Neuerzählung die Anziehungspunkte des Originals auf ansprechende Weise wieder.
Der Spannungsbogen bleibt trotz Kürzung unversehrt. Die fantasievollen Charaktere und die wortwitzige Sprache von Anne mit ihrem Hang zum Theatralischen birgt trotz weniger Worte großen Unterhaltungswert, und selbst Feinheiten wie die leichte Ironie, die z.B. den Szenen um Annes anfängliche „Feindin“ Rachel Lynde anhaftet, bleiben erhalten.
Etwas fürs Auge
Lobend hervorzuheben ist auch die liebevolle Ausstattung des Buches, allen voran die wunderschönen und detailreichen Illustrationen von Abigail Halpin, die die Geschichte kongenial begleiten und die Handlung hervorragend unterstreichen. Jedes der kurzen Kapitel wird von den fröhlich-bunten Bildern, die sich oft über zwei ganze Buchseiten erstrecken und wunderbar atmosphärisch, aber nicht verstaubt und altbacken sind, begleitet. Schon das aussagereiche Titelbild, das ein zögerlich wirkendes Mädchen in altmodischer Kleidung mit roten Zöpfen und einer Reisetasche zeigt, machen neugierig und Lust darauf, das Buch in die Hand zu nehmen und zu lesen.
Fazit
Durch die vielen Illustrationen und die einfache Sprache ist es nicht nur für Leseanfänger und leseungeübte Kinder geeignet, es wird auch gleichzeitig zum perfekten Vorlesebuch, das heranwachsende Leser dazu einlädt, in Annes Welt einzutauchen.
Deine Meinung zu »Annes wundersame Reise nach Green Gables«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!