Kleine Diebe in großer Gefahr
- Rowohlt Rotfuchs
- Erschienen: Oktober 2005
- 0
Bowering Sivers Abenteuerroman führt uns zurück in das 19. Jahrhundert. Von beinahe erdrückender Intensität erzählt sie von der Suche nach Billy, einem 5-jährigen Zigeunerjungen, der im Londoner Untergrund gekidnappt wird und dem wir mit jeder Seite nichts sehnlicher wünschen, als eine erlösende rettende Hand...
Das Leben für die Perkinskis ist wahrlich nicht leicht. Die Zigeunerfamilie kämpft im viktorianischen London um ihr tägliches Brot. In ärmlichen Verhältnissen lebend und mit kaum genug Geld für Nahrung, geschweige denn für ordentliche Kleidung, bleiben auch Jem, Ned und der fünfjährige Billy nicht verschont. Die drei Brüder müssen ihren Teil zum Überleben der Familie beitragen. Und so ergattern sie sich mit kleinen Betrügereien und diebischen Tricks etwas Essen oder ein wenig Geld. Das ist nicht immer ungefährlich und der Schritt ins Gefängnis nicht weit.
Doch mit diesen per se schon negativen Vorzeichen nicht genug. In London treibt sich übles Gesindel herum, das auch vor verwahrlosten Kindern nicht zurückschreckt, diese schnappt und für eigene Zwecke missbraucht oder verkauft.
Diesen Schrecken muss eines Tages Billy am eigenen Leib erfahren, als er sich mit seinen Brüdern nach einer Gaunertour verirrt und bei dichtem Nebel im gefährlichsten Viertel der Stadt landet. Billy wird unbemerkt von Mr. Bullock, einem Dieb und Schornsteinfeger, entführt. Mr. Bullock hat schon häufiger kleine Jungen gekidnappt, um diese für seine Schornsteinfegertouren einzusetzen, bei denen es aber nicht nur um das Reinigen der Schornsteine geht, sondern vielmehr um das systematische Auskundschaften von potentiellem Diebesgut in möglichst vornehmen Vierteln.
Die Angst steckt Billy tief in den Knochen. Die Geschichten der weiteren entführten Kinder, die mit ihm im Hause der Bullocks verweilen, tragen nicht unwesentlich dazu bei, dass diese Angst noch weiter verstärkt wird. Mr. Bullock und seine Frau sind überaus gewissenlos, ernähren die Kinder im besten Sinne notdürftig und nur deren Tochter Clem sorgt sich um die entführten Kinder.
Alles Weinen und Bitten helfen nicht. Billy wird zu seinem ersten lebensgefährlichen Einsatz gezwungen. Er soll allein in einen Schornstein klettern und diesen von innen reinigen, ungesichert und ohne jede Ahnung, welche Gefahren auf ihn warten. Um es kurz zu machen, Billy vermasselt seinen ersten Auftrag und ist verantwortlich für reichlich Dreck in einem Haus, in dem Verschmutzung sagen wir mal, wenig gern gesehen ist. Die humorvolle Schilderung der Pannen nimmt man zu diesem Zeitpunkt der Geschichte sehr gerne an.
Bei einem zweiten, in großer Unruhe endenden Auftrag, gelingt Billy schließlich die Flucht. Doch die erste Freude endet in weiterem Schrecken. Vom Regen in die Traufe heisst es und Billy fällt Jim Rippen, genannt ";Terror";, einem der schrecklichsten und brutalsten Verbrecher, in die Hände. Billys Brüder Ned und Jem, die sich derweil ohne Wissen der Familie auf die Suche nach Billy begeben haben, geraten schließlich selber in die Fänge des ";Terrors"; - und der hat, wie man sich unschwer vorstellen kann, keine kinderfreundlichen Pläne im Sinn.
Ein Happy-End will sich bei so viel Dramatik wirklich gar nicht in Aussicht stellen. Aber Bowering Sivers gönnt uns, beinahe auf dem Höhepunkt des Unglückes für Billy, die erhoffte Wendung. Sie führt die beiden Handlungsstränge der Brüder immer näher zusammen und vereint sie dann beinahe sprichwörtlich zu einem starken Familienband. Ned und Jem beweisen ihren Mut und setzen sich für ihren Bruder ein. Trotz einiger weiterer unerwarteter Rückschläge können die Brüder nach einem turbulenten Finale aufatmen. "Endlich!" will man am Ende fast sagen und fühlt sich, als würde man erschöpft aus dem Untergrund von London emporsteigen.
Durchatmen - nur schnell kurz zurück in die Realität - gleich wieder abtauchen - es muss sich doch bald zum Guten wenden... Meine Gedanken rasten mehr als einmal während der Geschichte. Als Mutter mag man sich gar nicht vorstellen, wie sich der 5-jährige Billy fühlen mag und die Ausweglosigkeit des Jungen wird zur eigenen Hilflosigkeit beim Lesen.
Die oft schonungslosen Schilderungen von Bowering Sivers dürften Eltern garantiert arg in ihrem Beschützerinstinkt packen und nicht wenige Seiten zur Qual werden lassen, mitfiebern ist da schon kein passender Ausdruck mehr. In manchem Moment würde man am liebsten auf der Stelle in das Buch greifen und den kleinen Billy befreien.
Wie gut, dass es ein Kinderbuch ist, muss man sich fast humorvoll ins Gedächtnis zurückrufen. Und tatsächlich dürften die drei Brüder Ned, Jem und Billy schnell ungeteilte Aufmerksamkeit und Zuspruch unserer Kinder erhalten.
Das liegt an der ungeheuren Spannung, die im Laufe der Geschichte aufgebaut wird. Die Bösewichte agieren sehr zielstrebig und im Falle von Tom Ramsbottom - er spielt Billy in die Hände des Terrors - nach klassischem Muster verdeckt hinter einer Fassade der Freundlichkeit und Noblesse. Die oft schonungslosen Andeutungen von körperlicher Gewalt verbreiten gezielt ihren Schrecken, richtig grausame Schmerzen zugeführt wird niemandem. Manch zartes Gemüt will aber bestimmt seine in Aufruhr versetzte Phantasie besänftigt wissen.
Bowering Sivers fängt die Atmosphäre und das Milieu des Londoner Untergrundes im 19. Jahrhundert authentisch und stimmungsvoll ein, was noch durch die Sprache und den Slang einiger Charaktere Feinschliff erhält. Die Personen sind präzise und vielfältig charakterisiert, nehmen eindeutige Positionen in der Geschichte ein. ";Clem";, der Tochter der Bullocks, kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Sie ist zum einen Bindeglied zwischen zwei Familien und einer der wenigen ";menschlichen Lichtblicke"; in der Erzählung. Sie beschwichtigt oft ihren Vater, sorgt sich um die entführten Kinder und agiert uneigennützig. Trotz der innerfamiliären Konflikte bei den Perkinskis, auch unter den Geschwistern, sind die engen Verbindungen und der Zusammenhalt spürbar. Die Bösewichte sind mit ihren Gewaltandrohungen an Skrupellosigkeit und Gemeinheit kaum zu überbieten. Aber auch die Autorin kann gemein sein. Gerade noch sind wir glücklich, dass die Brüder zusammengefunden haben, da werden Sie schon wieder auseinander gerissen und das Nervenspiel geht weiter.
Der Showdown zieht vom Tempo her noch einmal deutlich an, ";überschlägt"; sich aber an der einen oder anderen Stelle etwas. Wirklich störend ist das aber nicht. Der dialogreiche Erzählstil von Bowering Sivers ist an jeder Stelle motivierend und die einzelnen Kapitel sind flüssig zu lesen.
Fazit:
Ein Abenteuerroman, der sich nicht einfach als Fantasiegeschichte abspeisen lässt. Der tägliche Kampf ums Überleben und die Bedrohungen vor historischem Hintergrund sind real. Die davon ausgehende Wirkung dürften auch Kinder beim Lesen spüren und die Spannung und Dramatik beinahe greifbar machen. ";Kleine Diebe in großer Gefahr"; kann vom Titel her unspektakulärer aber in diesem Fall passender nicht sein. Es wird einen weiteren Band geben...wenn es doch nur wieder gut ausgehen wird...
Bowering Sivers, Rowohlt Rotfuchs
Deine Meinung zu »Kleine Diebe in großer Gefahr«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!