Wenn der Winter gar nicht gehen will
Es ist kalt im Eldbjørn-Wald, eisig kalt. Und das nicht erst seit ein paar Tagen oder Wochen, nein, seit fünf Jahren hat der Winter die Gegend fest im Griff. Seit fünf Jahren haben die vier Geschwister Oskar, Sanna, Mila und Pípa kein Grün an den Bäumen oder Gras auf den Wiesen gesehen. Doch damit nicht genug: seit fünf Jahren wohnen die vier Kinder recht einsam in einer kleinen Waldhütte, seitdem ihr Vater, der nach dem Tod seiner Frau nicht mehr so recht froh werden konnte, eines Tages im Wald verschwand und nicht mehr wiederkam.
Diese armselige Ruhe wird jäh gestört, als eines Tages ein großer, bärtiger Mann mit vielen weiteren Männern und Schlitten vor der Hütte um Nahrung und einen Ort zum Übernachten bittet. Widerwillig gestattet Oskar den Männern, ihr Lager vor der Hütte aufzuschlagen. Doch am nächsten Morgen, als die drei Mädchen erwachen, ist Oskar weg. Die Schwestern suchen jeden erdenklichen Platz ab, an dem er sein könnte, aber ohne Erfolg. Also machen sie sich schließlich auf den Weg in den nahegelegenen Ort Stavgar, um dort nach ihm zu suchen. Doch die Dorfbewohnerinnen haben ganz ähnliche Erfahrungen gemacht: Viele Jungen sind verschwunden, nachdem der geheimnisvolle Mann durch die Stadt gekommen war.
Kurzentschlossen auf Bjørns Spuren
Anstatt tatenlos da zu sitzen und abzuwarten, machen sich Mila und Pípa in der folgenden Nacht kurzentschlossen auf den Weg, um ihren Bruder zu suchen. Nicht ganz unschuldig an dieser Entscheidung ist Rune, der scheinbar nicht viel älter als die 12-jährige Mila ist, allerdings allein in einer Hütte am Ortsrand wohnt und über magische Kräfte verfügen soll. Denn Rune ist sofort klar, dass hinter dem mysteriösen Verschwinden nur der Bärengeist Bjørn stecken kann. Dieser wohnt hoch im Norden auf einer einsamen Insel und soll eigentlich den Eldbjørn-Wald schützen. Doch vor fünf Jahren nahm durch eine unbedachte Handlung von Milas Vater ein Verhängnis seinen Lauf, das nur durch Mut, Zuversicht, ein bisschen Magie und etwas Glück aufgehalten werden kann.
Wer schon einmal in den Wintermonaten in Skandinavien war, weiß, wie lang, dunkel und kalt der Winter sein kann. Doch auch, wenn scheinbar kein Ende absehbar ist, steht fest, dass irgendwann die Sonne wieder wärmen wird, die Vögel zwitschern und die Blätter an den Bäumen sprießen. Doch wie fühlt sich der Winter an, wenn es keine Hoffnung auf Frühling gibt? Und wie fühlt es sich an, wenn man in diesem immerwährenden Winter ohne Eltern in einer einsamen Waldhütte ums Überleben kämpfen muss? Der Beginn der abenteuerlichen Geschichte Der Winter des Bären könnte also wohl kaum trauriger oder düsterer sein, als Kiran Hargrave es gewählt hat. Da wundert es auch nicht, dass der Ton unter den Geschwistern etwas frostig und wenig herzlich ist und über allem eine gewisse Verbitterung liegt. Gesteigert wird dieses unwohle, finstere Gefühl noch durch den unheimlichen Besuch, der durch kleine Details zeigt, dass nicht alles mit dem Rechten zugeht.
Spannung bis zur letzten Seite
Spätestens ab diesem Moment ist es aber auch zu spät, um das Buch weg zu legen. Denn dieses Setting provoziert einen starken Spannungsbogen, der schnell vergessen lässt, ob es draußen stürmt oder schneit. Darüber hinaus hat Kiran Hargrave nicht nur eine dichte, atmosphärische Geschichte mit vielen überraschenden Momenten erdacht, sie erzählt sie auch unglaublich packend, spannend und sehr kurzweilig. Ihr gelingt es, imaginäre Schneelandschaften ebenso plastisch zu zeichnen wie den Figuren überzeugende Charaktere zu geben. Vor allem Milas Entwicklung, die anfänglich gar nicht wie eine Hauptfigur wirkt, ist sehr gut beschrieben und holt Kinder absolut altersgerecht ab. Sie ist nicht übertrieben mutig, aber ein bisschen eben doch, sie ist vernünftig vorsichtig, sie ist bedacht und dann doch auch ein bisschen tollpatschig und könnte daher ein Mädchen wie jedes andere sein, das letzten Endes durch die Umstände über sich hinauswächst.
Und noch etwas macht Kiran Hargrave deutlich: auch, wenn die emotionale Ebene vordergründig sachlich und abgeklärt zu sein scheint, verbindet die Kinder doch auch ein liebevolles und herzliches Band, mit dem die Sorge um einander größer ist als die Angst vor dem Unbekannten. Dadurch gibt es in der scheinbar aussichtlosen Situation immer noch ein Fünkchen Hoffnung, kippt das Grau nie ins Schwarz um.
Ein Hingucker ist zweifelsohne auch das wunderbar stimmige Cover (weiß mit Goldprägung auf blauem Grund), dass den immer noch währenden Hygge-Trend aufgreift und direkt beim Anschauen den Wunsch nach Gemütlichkeit mit Tee, Sofa und wildem Schneesturm auslöst.
Fazit
Der Tradition nordischer Märchen und Sagen folgend, stehen in Der Winter des Bären Naturgewalten und magische Wesen und das Gleichgewicht zwischen Natur und Mensch im Vordergrund. Doch darüber hinaus ist das Einstehen für Freunde und Familie eine wichtige Botschaft, ohne die Mila, Pípa und Rune den Kampf gegen Bjørn sicherlich anders geführt hätten.
Kiran Millwood Hargrave, Insel
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