Altmodische Waisenkinder-Geschichte für Kids von heute
Die vier Willoughby-Geschwister, das sind die Hauptfiguren in einem nagelneuen, aber vom Erzählduktus her altmodisch anmutenden Kinderbuch. Es stammt von Lois Lowry, die seit Jahrzehnten ausgezeichnete und preisgekrönte Kinder- und Jugendbücher schreibt. Ein Teil des „Altmodischen“ mag vielleicht auch auf diese Tatsache zurückzuführen sein. Aber es wird von Anfang an auch explizit betont: Diese vier Kinder benehmen sich anders als normale Kinder. Sie haben altmodische Namen und lesen altmodische Bücher und benehmen sich altmodisch. Wie Kinder in altmodischen Waisenkindromanen. Die ja früher mal sehr „in“ waren und fast ein eigenes Genre, von „Oliver Twist“ bis „Sophiechen und der Riese“.
Zitate aus der klassischen Waisenhausliteratur
Im Verlauf der Geschichte zitieren die Figuren immer mal wieder aus den verschiedensten Klassikern der Waisenhausliteratur. Wer all die Geschichten kennt, hat um so besseres Kopfkino beim Lesen. Zu verstehen ist die Story aber auch sonst. Wer Lust auf mehr Wissen hat, findet hinten im Glossar zu jedem Werk ein paar weiterführende Infos.
Aber kommen wir zurück zu den Waisenkindern, die (noch) gar keine sind. Die Willoughby-Geschwister – Timothy, die Zwillinge Barnaby A und Barnaby B und ihre kleine Schwester Jane – halten zusammen und bleiben unter sich; und sie leben auch sehr auf Abstand zu ihren gefühlskalten und gleichgültigen Eltern. Die Vierer-Kombo hat ihre eigenen Regeln. Besser gesagt, Timothy, der Älteste, stellt diese Regeln auf, wie es ihm passt und sorgt dafür, dass sie eingehalten werden. Er kümmert sich um die Kleinen, aber gleichzeitig ist es ihm wichtig, seine Vorrangstellung zu behalten.
In einem anderen Setting hätten all vier sicher eine psychatrische Diagnose. Aber dass es kein solches Problem-Buch ist und nicht immer alles für bare Münze gilt, merkt man eigentlich von Anfang an. Und spätestens als die Eltern zu einer völlig übertriebenen und waghalsigen Weltreise aufbrechen: Vulkanwandern, Bergbesteigen, Krokodiltauchen. Und dass die vier Kinder sich darauf freuen, das mindestens eins von diesen Abenteuern schief geht. Und sie endlich, endlich Waisenkinder werden.
Knapp vor der Abreise engagieren die Eltern noch ein Kindermädchen. Das ist entgegen der elterlichen Ankündigung nicht besonders abscheulich, sondern ein wahrer Glücksgriff.
Satire statt Sozialromantik
In der Geschichte gibt es noch einen zweiten Handlungsstrang: Über einen Nachbarn der Kinder, einen reichen Unternehmer, dessen Frau und Sohn vor Jahren in den Alpen verschollen sind und der darüber depressiv geworden ist. Und „Messi“. Briefe von den Schweizer Behörden über den Stand der Suche macht er schon gar nicht mehr auf. Geld verdient er mit seiner Schokoriegelfabrik wie von allein. Eines Tages aber liegt vor seiner Türe ein Findelbaby. Er nimmt es auf, weil es sich so gehört. Aber dann hat er solche Freude daran, dass auch seine Lebensfreude wiederkommt.
Auch die Willoughby-Kinder blühen auf unter der kompetenten Zuwendung ihrer neuen Nanny, die sich mit reichlich gutem Essen und sehr viel robuster Herzenswärme um sie kümmert. Das kennen die vier so gar nicht.
Es kommt wie es kommen muss, der Fabrikant und sein Baby treffen sich mit der Nanny und den vier Kindern zum Spielen. Erst eher zufällig, dann regelmäßig, dann ziehen sie zusammen.
Die Kinder werden Waisen und drei Familien zu einer
Was der Leser kennt, aber die anderen Figuren nicht, ist der dritte Handlungsstrang: Die verschollene Unternehmergattin und der kleine Sohn sind nicht tot, sie leben. Weil auf ihre Briefe aber nie eine Antwort kam, nahmen sie an, der Ehemann und Vater wolle nichts mehr von ihnen wissen. Die Frau heiratet neu und der kleine Sohn reißt aus und macht sich auf den Weg, seinen echten Vater zu finden.
Jedes Kapitel beginnt mit einer kleinen, feinen Zeichnung. So lernt der Leser nach und nach das ganze Personal kennen. Auch wenn das gar nicht nötig wäre. Ist es doch eine dieser Geschichten, die fast unmerklich so bildhaft formuliert sind, dass man die handelnden Personen und auch die Szenerie wie von selbst vor seinem inneren Auge hat.
Die Charaktere sind alle schön verschroben und übertrieben – genau wie die Geschichte an sich. Die große Stärke des Buches ist es, alte, klassische Themen in einen modernen und neuen Kontext zu stellen, so übertrieben und überzeichnet, das es lustig ist und vor allem keine Sozialromanze sondern eher Satire.
Zum Schluss geht der Waisenkind-Plan auf und das Ende ist trotzdem happy. Danach gibt es noch einen Nachspann, in dem zu allen wichtigen Figuren und Handlungen zu lesen ist, wie es weitergeht, wer wen heiratet und wo wie sein Geld verdient. Und danach ist wirklich Schluss, kein Cliffhanger, keine Fortsetzung, sondern Ende. Timothy, A, B und Jane bleiben einem trotzdem noch lange in Erinnerung.
Fazit:
Die Geschichte der Willoughby-Geschwister liegt irgendwo zwischen klassischer Waisenkind-Romantik und kompletter Anarchie, ist gemütlich und chaotisch zu gleich, komisch und traurig, liebevoll und böse, selbstverständlich und skurril und satirisch. Völlig überzeichnet und doch wie das Leben. Vertraut und doch mal wirklich was anderes. Für Kinder mit Sinn für nicht immer leichten Humor und für Erwachsene die gerne gute und gehaltvolle Kinderbücher lesen.
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