Einhörner sind Trend, auch im Kinderbuch, und je mehr es davon gibt, desto weniger geht es in der Geschichte einfach nur um ein Einhorn, sondern sie werden zu normalen Kinderbuchfiguren, an denen normale Kinderbuchthemen erzählt werden. So wie Nori, die Hauptfigur in diesem Bilderbuch. Wobei: so ein ganz richtiges Einhorn ist Nori eigentlich gar nicht. Ganz im Gegenteil.
Die Hauptfigur Nori ist nämlich ein Narwal.
Nori kam im Meer zur Welt und ist fest davon überzeugt, ein Narwal zu sein. Zwar kann er bei Weitem nicht so gut schwimmen wie die anderen Narwale und sein Stoßzahn ist viel kürzer, doch weder ihm noch seiner Familie scheint es etwas auszumachen, dass er anders ist. Und so sehen wir dem kleinen Nori ein paar wasserblaue Doppelseiten lang beim Aufwachsen zu, wie er mit Eltern, Geschwistern und Freunden spielt und, obwohl er anders ist, ganz normal liebgehabt wird.
Dann gerät er aus Versehen in eine starke Strömung. Er kann ja nicht gut schwimmen und auf einmal ist er weit weg von zu Hause und wird an Land gespült. Dort muss er erst mal Laufen üben. Wie, schaut er sich bei den anderen Tieren ab: bei den Krebsen - klappt nicht. Bei den Fröschen - klappt auch nicht. Bis er den Dreh raus hat und herausfindet, dass er erstaunlich gut laufen kann, besser als Schwimmen.
Er läuft also los.
Die Bilder und Farben sind nach wie vor schlicht, aber man sieht deutlich, dass Nori nicht mehr im ruhigen blauen Ozean ist. Er läuft über Sand, durch Wälder, es ist grün, gelb, mal hell, mal dunkel. Der Text nimmt sich sehr zurück, im ganzen Buch ist das so, manchmal nur zwei Sätze, die das nötigste zur Szene sagen, manchmal auch nur gezeichnete Sprechblasen.
Und dann wird es bunt und bunter, Regenbögen spannen sich über geblümte Wiesen, alles ist voller Schmetterlinge, Musik - und alles ist voller schneeweißer Tiere, die auf vier Beinen laufen, eine rosa Schnauze haben und ein Horn. So wie er, wie Nori. "Land-Narwale!" Nori ist begeistert.
"Eigentlich sind wir Einhörner", antwortet da eins der Tiere. "So wie du auch wie mir scheint." Und ja, das kann der Grund sein, warum er sich so anders fühlt, oder? Und: Nori bleibt, zaubert Regenbögen, isst buntes Eis, galoppiert wie der Wind, statt unbeholfen im Meer zu paddeln. Bis er dann doch seine Familie vermisst. Und ins Meer zurückgeht. Nicht ohne den besorgten Gedanken, ob ihn die Narwale denn noch mögen. Jetzt, wo er doch ein Einhorn und damit offiziell anders ist.
Eine kleine Schlüsselszene, an der sich je nach Kind oder auch Kindergruppe, ganz viel erzählen, überlegen und besprechen lässt. Könnt ihr verstehen, wie er sich fühlt? Kennt ihr das auch? Kennt ihr jemanden, der sich so fühlen könnte. Wie würdet ihr Nori aufnehmen?
Die Reaktion der Narwalfamilie ist warme Freude, dass Nori wieder da ist. Und: "Natürlich bist du kein Narwal, das war uns schon immer klar."
Aber: ganz zufrieden ist er nicht. Er fühlt sich weder als Meereseinhorn bei den Narwalen noch als Landwal bei den Einhörnern hundertprozentig zugehörig, eigentlich ist er beides. Kleine Bemerkung am Rande, die zeigt, wie durchkomponiert die Geschichte ist: der Narwal ist das einzige Tier auf der Welt mit einem Einhorn-ähnlichen Horn und möglicherweise der Grund für den Mythos.
Am Ende ist alles gut. Seine Familie zieht mit ihm in Ufernähe und er kann zwischen Meer und Walen und Land und Einhörnern wechseln wie es ihm gefällt. Schön. Und realistisch. Denn Nori ist eben weder Narwal noch Einhorn. Sondern einfach nur Nori.
Fazit:
Noris Geschichte verknüpft typische Kinderbuchthemen wie Anderssein, Zugehörigkeit, Familie, Identität mit herzallerliebsten Bildern des aktuellen Quotenbringers Einhorn und spielt gleichzeitig noch mit dem Mythos dieses Fabelwesens. Großartig. Ein ganz zauberhaftes Bilderbuch, voll im Trend und gleichzeitig absolut zeitlos.
Sigrid Tinz
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