Carmen Grandezzas Katzenheim
- Edition Nilpferd
- Erschienen: Oktober 2017
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Carmen Grandezza ist eine imposante Erscheinung, eine echte Dame. Früher war sie Opernsängerin, heute wohnt sie idyllisch auf dem Lande und kümmert sich um mittlerweile sechs Katzen, die sie von überall her auf ihren Konzertreisen auf die eine oder andere Art gefunden hat. Heute soll jemand neues dazukommen. Die Katzen, tiefenentspannt, interessiert das wenig. Eine Mieze mehr oder weniger - so what? Bis sie merken, dass der Neuzugang ein Hund ist.
Cat Content - wie fachkundige Youtuber die lustigen Katzenvideos nennen - ist meistgeklickt: Katzen sind authentisch und ästhetisch, lustig und manchmal auch ein bisschen crazy; wie ein virtuelles Stückchen Schokolade, süß, lecker, schön für zwischendurch. Wundert eigentlich nicht, dass auch in der Kinder- und Jugendliteratur zunehmend Katzen als Protagonisten auftreten, viele typische Bilderbuchthemen eben auch mal mit Katzen erzählt werden. Nette Alltagsgeschichten und Abenteuer, Serien wie die fantastischen Zauberkätzchen und die wilden Warrior Cats, Katzen gehen in die Schule, haben schlechte Laune, fahren in Urlaub, Katzen im Erstlesebuch, Katzen in Krimis und in Sachbüchern auch.
Diese Geschichte hier um Carmen Grandezza und ihre Katzen ist ein besonders gelungenes Katzenbuch: neu, vielschichtig, individuell, schön und lustig.
Carmen Grandezza ist eine Opernsängerin, die nicht mehr auf der Bühne steht: ihre Karriere ist gescheitert, an ihren Minderwertigkeitskomplexen, an ihrem Neid auf Kollegen und den daraus entstandenen Versagensängsten. Einmal, während eines gemeinsamen Auftritts schnürte es ihr, vor lauter Neid, den Hals zu und sie konnte keinen Ton mehr singen. Wurde ausgelacht und ausgebuht, rannte von der Bühne und ist seit dem nie wieder aufgetreten.
Sondern lebt in einem idyllischen Häuschen am See, hat ein geruhsames Leben und singt nur noch ihren sechs Katzen etwas vor. Auch der Lesetext wirkt ein bisschen wie ein Lied - er ist nicht gereimt und man kann ihn einfach so vorlesen, er ist schön anschaulich und gut verständlich - aber er hat seinen eigenen Rhyhtmus, ein bisschen wie ein Singsang. Und man kann sich genau vorstellen, wie die opulente Carmen sich so durch den Tag redet und singt, mit Ausdruck und Nachdruck, hoch, tief, lang, kurz; sich um die Katzen kümmert und das ruhige Leben genießt.
Das ist ein Teil des Inhalts und der Message: Können ist nicht alles; manches scheitert auch an Gefühlen. Karriere ist auch nicht alles, ein einfaches Leben passt vielleicht viel besser und für jeden mag etwas anderes richtig und wichtig sein.
Eines Tages verkündet Carmen ihren Katzen, dass heute jemand neues kommt. Ebenfalls ein Findelkind, ein Sorgenfall, jemand der es nicht einfach gehabt hat, "er wurde lieblos behandelt und geschlagen. Ich möchte euch bitten, ihn willkommen zu heißen und als einen Freund oder ein neues Familienmitglied anzunehmen." Kein Thema, so scheint es, die Katzen sind tiefenentspannt. Eine mehr oder weniger, was soll da der Unterschied sein.
Das ändert sich. Denn auf einmal hören sie jemand bellen! Ein Hund? Ein Hund! Das geht nicht!
Und schon ist er da, der Hund auf der nächsten Seite, haarig, zottelig, ungestüm, mit hängender Zunge und Lass-uns-Spielen-Blick, er springt mittenhinein in die helle, gemächliche, sonnige Idylle der Katzen. Auch die sechs Miezen sind genauso wie der Hund unwahrscheinlich originell illustriert, alle ganz unterschiedlich, aber alle schön zottelig und mit Kulleraugen, die Bände sprechen an Gefühlen, Gedanken und Charaktereigenschaften.
Klar, worum es jetzt geht in der Geschichte: Ärger, Abwehr, gegenseitiges Unverständnis. Dieses Bellen. Wie schrecklich. Der nervt. Der soll wieder weg. Aber Carmen hat Zeit. Sie macht deutlich, dass der Hund bleiben wird, nimmt sich aber auch die Zeit für jede Katze und singt eine eigene Arie über jede: wie sie das Kätzchen gefunden hat, wovor es gerettet wurde und was ihr jede bedeutet: Lear war Streuner und halb verhungert, Normas Herrchen starb, und Candida ist ihr im Ausland zugelaufen. Mimi war Theaterkatze in einem Theater, das geschlossen und abgerissen wurde, Porgy war verletzt und Bess hat nur noch ein Auge. Und Tarek, der Hund, hat eigentlich ein ganz ähnliches Schicksal. Und damit haben sie auf einmal alle etwas gemeinsam. Ein schlimmes Schicksal. Und ihre Carmen, bei der sie ein Gnadenplätzchen gefunden haben. Ob Hund oder Katze ist egal. Jeder ist besonders und einzigartig, und wenn man sich ein bisschen Mühe gibt, ehrlich ist mit sich und den anderen, und auch ein bisschen nachsichtig, dann gewöhnt man sich aneinander. Auch Tarek gewöhnt sich, bellt weniger und nur noch wenn es nötig ist. Und auch die Katzen gewöhnen sich, lassen sich nicht mehr stören und fühlen sich durch den Hund sogar noch ein bisschen besser behütet und beschützt als vorher.
Fazit:
Das Bilderbuch von der gescheiterten Opernsängerin Carmen, ihren vielen Katzen und dem einen Hund lässt sich wunderbar als Parabel lesen über die Angst vor Veränderungen und Fremdem und den Umgang damit. Egal ob ein neues Kind in die Kitagruppe kommt oder man das Thema Migranten in Deutschland thematisieren will. Und wenn nichts davon anliegt, genießt man einfach nur eine gut gemachte Geschichte von sechs wunderbaren und großartig gestalteten Katzenviechern und einem Hund.
Sigrid Tinz
Marjaleena Lembcke, Edition Nilpferd
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