Flügel aus Papier
- Sauerländer
- Erschienen: Juni 2016
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1942, Warschau, Zweiter Weltkrieg: Der kleine Rafal lebt bei seinem Großvater, im jüdischen Ghetto. An die Zeiten davor, ohne Ängste und Hunger, an die Schule und an seine Eltern kann er sich kaum noch erinnern. Aber trotzdem haben es sich die beiden ganz gut eingerichtet: der Großvater verdient ein bisschen Geld mit dem Geigenspielen, Rafal geht fast täglich in die Bücherei und träumt sich mit jedem neuen Buch in neue, andere Welten. Schließlich gelingt es dem Großvater, Rafal aus dem Ghetto schmuggeln zu lassen; aber danach wird alles erst richtig schlimm. Bis es am Ende dann doch noch einigermaßen gut wird.
Bücher über den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust und alle anderen fürchterlichen Grausamkeiten dieser Zeit gibt es viele. Drastische, historische, genaue, lange, kurze, grausame, harmlose und je mehr die Zeit voranschreitet, desto mehr werden es und desto vielfältiger werden sie - und spätestens mit der Schullektüre wird jedes Kind Berührung damit bekommen.
Kein einfaches Thema, das mit den Jahren und dem zunehmenden Abstand nicht einfacher wird: die persönliche Betroffenheit durch Großeltern oder Eltern ist nicht mehr da, Verantwortung für all das haben die Kids von heute sowieso nicht, aber trotzdem soll ihnen das Grauen klar werden - ohne zu grausam zu sein - und dass das alles in echt passiert ist und nicht eine ausgedachte Abenteuer-Kriegs-Geschichte ist. Es soll sie so berühren, dass sie ihre Lehren aus den Dingen ziehen können, um die Zukunft so gestalten zu können, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt. Flügel aus Papier ist ein Buch mehr in der Reihe, aber auch ein Buch, das ein bisschen aus der Reihe tanzt. Man könnte ihm vorwerfen, dass es das Thema zu locker nimmt oder mit zu viel Unterhaltung anreichert, zu wenig einordnet und erklärt. Aber zu einem guten Teil dadurch findet es natürlich Leser. Das vorneweg.
Flügel aus Papier wird nicht als Anti-Holocaust-Buch eingeführt, Kinder ohne historische Vorkenntnisse werden viele Seiten Lesen, ohne zu erkennen, wo, wann und wieso genau die Hauptfigur Rafal lebt. Das alles wird zwar am Ende in einem Epilog erklärt, aber den liest man ja gemeinhin erst am Ende oder vielleicht auch gar nicht. Deswegen: wem als Eltern das wichtig ist, der muss ein bisschen selbst mit ran.
Was von Anfang an klar ist: dass die Geschichte in einer früheren Zeit spielt und dass es keine guten Zeiten sind. Man merkt es daran, wie Ich-Erzähler Rafal seine Stadt beschreibt, die Straßen und Gassen, die Häuser, die Leute, die Brücken, den Fluss und die Läden; wie er erzählt, dass er sich immer ein bisschen vom wenigen Geld für die Bücherei abzwackt, um sich so oft und so viel Bücher wie möglich auszuleihen: Jules Vernes und andere fantastische Romane mag er besonders; wie er an einem zerbombten Haus vorbei kommt, an einem SA-Mann, dass seine Eltern nicht mehr da sind und er bei seinem Großvater lebt, ein ehemals berühmter Geiger, der sich den knappen Lebensunterhalt mit Straßenmusik verdient; während Rafal sich um den Haushalt kümmert und ums Essen, Schule gibt es nicht.
Soweit der Rahmen - den Rafal uns Lesern steckt, der Tonfall ist ein bisschen geplaudert, aber gerade dadurch lässt er starke Bilder vor dem inneren Augen entstehen. Und er flicht immer wieder Weisheiten und Gedanken ein, die er aus seinen Büchern hat und mit seiner ihm eigenen Lebenserfahrung und Kinderlogik vermischt zum Besten gibt:
"Es soll einmal gar nicht so wichtig gewesen sein, wo jemand herkam, sondern es zählte nur, was er für ein Mensch war. Jeder wohnte, wo es ihm gefiel, ganz egal, wie er hieß, woran er glaubte, oder welche Farbe seine Haut, seine Haare oder seine Augen hatten."
Nach einiger Zeit organisiert der Großvater Rafals Flucht aus dem Bezirk, und wie schon an anderen Stellen, schmückt sich die Geschichte mit fantastischen und fantasievollen Wendungen und Zusätzen, die gar nicht so zum stringenten Holocaust-Thema passen, wohl aber sehr zur kindlichen Erlebniswelt. Rafal wird von einer fremden Frau mitgenommen, er versteht nicht viel und vermisst auch schnell den Großvater - und dann stellt er sich seine Flucht als Zeitreise in die Zukunft vor, in eine andere Welt, das ganze wird zum Spiel. Es steigert sich noch, als er - durch Schwierigkeiten von der Frau getrennt wird - krank in einem Verschlag liegt und träumt, dass er eine Zeitreisemaschine findet, die er aus einem seiner Bücher kennt, einsteigt und mit dieser landet er dann schließlich in unserer Zeit, genauer gesagt im Jahr 2013, trifft ein Mädchen, das ihn zum HotDog essen einlädt - bis er von einem Auto angefahren wird und wieder im Jahre 1942 aufwacht. Gesund gepflegt von einigen anderen Kindern, die sich, wie er, im verlassenen Warschauer Zoo verstecken. Zusammen schlagen sie sich durch die schlechten Zeiten - und bauen heimlich ein Boot, um zu flüchten. Alles wird noch ziemlich dramatisch, aber es geht gut aus für Rafal und seine Freunde. Und das Ende ist dann fantastisch-wunderschön und wird nicht verraten.
Fazit:
Ein Kinderleben im Warschauer Ghetto verschränkt mit einem fantastischen Abenteuer; oder eine fantasievolle Abenteuergeschichte im Warschauer Ghetto - mal steht das eine im Vordergrund, mal das andere. Und oft durchmischt es sich so, dass man gar nicht mehr darüber nachdenkt. Sondern sich in diese spannende, lebenskluge, ernste, humorvolle, historische und fantasievolle Geschichte hineinziehen lässt. Und auch wenn nicht alles so richtig gut ausgeht, weil dem schlicht die historischen Fakten entgegen stehen, hat es ein wunderwunderschönes Ende.
Sigrid Tinz, Juni 2016
Marcin Szczygielski, Sauerländer
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