Schnip will nicht so recht. Fliegen soll er. Aber es ist doch so hoch? Ist das nicht schrecklich gefährlich? Was, wenn er plötzlich vom Himmel fällt, weil seine Flügel nicht stark genug sind?
Der kleine Vogel würde schon gern mit seinen Freunden durch die Lüfte schwirren, Verstecken spielen und Fangen. Und seine Freunde unterstützen ihn nach Leibeskräften dabei, endlich fliegen zu lernen: sie bauen ihm Leitern in Bäume hinauf, damit er von weiter oben starten kann. Sie sprechen ihm Mut zu, sie feuern ihn an. Sie bauen ihm ein Fallkissen aus Blättern. Doch es hilft nichts. Schnip bleibt lieber am Boden. Zu groß ist die Angst.
Als es Herbst wird, wird es den Vögeln schnell kalt. Bald schon ziehen sie los Richtung Süden, auf ins Warme. Nur Schnip bleibt zurück und freundet sich nach und nach mit anderen Tieren an. Der kleinen Maus hilft er, ihren wärmenden Schal zu fangen, dem Eichhörnchen beim Transport seiner Nüsse, dem Frosch hackt er ein Badeloch in den zugefrorenen Teich und den Igel befreit er aus den Zweigen, in die dieser sich verfangen hat. Und schließlich trifft er auf den Maulwurf, der in seiner kalten Höhle kein Auge zumachen kann. Da wärmt Schnip ihn mit seinen warmen Flügeln und versinkt darüber selber in einen tiefen Schlummer. Als er wieder erwacht, sieht er durch ein Loch in der Erde die warme Frühlingssonne, die er sogleich begrüßen muss. Doch nicht nur die Sonne empfängt ihn, auch Maulwurf, Eichhörnchen, Frosch und Igel überraschen ihn mit einer selbstgebackenen Torte. Als just in diesem Moment am Himmel Schnips Freunde auftauchen, ist die Freude unbeschreiblich. Lange tauschen sie sich über ihre Erlebnisse aus und als Schnipp aufgeregt seine Geschichten erzählt, flattert und wedelt er aufgeregt mit den Flügeln, bis er plötzlich wie von selbst fliegt.
Wie viel Mut braucht es wohl, um den vertrauten Fußboden zu verlassen und die Welt aus einer anderen Perspektive kennen zu lernen? Ist nicht bereits das einfach Hinstellen bei Kleinkindern eine enorme Leistung? Die Beine wackelig, die Perspektive ungewohnt? Da verwundert es nicht, wenn sich manche Kinder nach den ersten zaghaften Versuchen lieber noch etwas Zeit nehmen, bis sie standfester sind und mehr Selbstvertrauen entwickelt haben. Denn manches braucht eben einfach seine Zeit. Drängeln und Fordern beschleunigen diesen Prozess selten und bauen nur unnötigen Druck auf. Wie viel wichtiger ist da die eigene innere Ruhe, Vertrauen ins eigene Ich und die Akzeptanz des eigenen Könnens. Und es gibt ja auch so viel anderes zu entdecken und zu bestaunen, bis eines Tages die Angst verschwunden, der Mut gereift und die nächste Stufe erklommen ist.
Die einfühlsam erzählte Geschichte von Claudia Lagermann harmoniert hervorragend mit den warmen und poetischen Illustrationen von Hanneke Siemensma. Der kleine Federball Schnip hüpft und flattert über die warmen Hintergründe, alle Tiere sind als sehr sympathische Charaktere dargestellt, die in einer geborgenen Umgebung keine Gefahren fürchten müssen und herzlich miteinander umgehen. Auch wenn viele Bilder recht dunkel sind, wie z.B. die Versteckszene im Wald oder die Höhle des Maulwurfs, wirken sie heimelig und geheimnisvoll, ohne bedrohlich zu sein. Siemensma kombiniert verschiedene Illustrationsstile wie Collage, Buntstiftzeichnungen und Kreidezeichnungen miteinander, die ein stimmiges und sehr ansprechendes Ganzes ergeben.
Fazit:
Große Leistungen werden nicht unbedingt durch Druck erzielt und Ängste nicht durch Zwang überwunden. Der kleine Schnip zeigt, dass innere Ruhe und Selbstvertrauen zum Ziel führen können - so lange man sich selbst treu und authentisch bleibt.
Claudia Goldammer, März 2016
Claudia Lagermann, Bohem Press
Deine Meinung zu »Schnip«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!