Wild

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Kinderbuch Couch
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Kinderbuch-Couch Rezension vonNov 2015

Idee

Thema Wolfskind: ein kleines Mädchen lebt ungestüm, wild und zufrieden im Wald unter Tieren. Bis neue Tiere – Menschen – kommen und es „retten.“

Bilder

Schön, auch anrührend zum Teil – aber auf jeden Fall das Gegenteil von niedlich. Grün. Bunt. Wild!

Text

Ein Satz pro Seite, der wie der Titel eines Theaterstücks den Vorhang öffnet und Leser und Betrachter in die nächste Szene eintauchen lässt.

Ein Mädchen lebt im Wald unter den Tieren, von Baby an. Von ihnen lernt es alles: sprechen, essen, spielen. Es ist wild und dreckig, aber aus den großen Augen leuchtet das Lebensglück förmlich heraus. Bis es von Menschen gefunden und gerettet wird.

 

"Niemand erinnerte sich, wie sie in den Wald gekommen war, aber alle wussten, es war gut dass sie da war."

Sie, das ist ein kleines Baby, alle, das sind die Tiere, die es im Dickicht finden und fortan umsorgen und großziehen: ein großer, felliger Bär, ein schlauäugiger Fuchs und eine Krähe. Die bringt dem Findelkind das Sprechen bei: "Kraaah, Kaaah, Kra Kraah."

Der Text ist wenig, nicht viel mehr als ein Satz, der jeweils das Motto bildet und den Leser und Betrachter quasi eintreten lässt in die nächste Szene. Man schaut sich in Ruhe um, sieht dies und das und fast automatisch kommt das Kind ins Erzählen und zusammen entwickelt man so etwas wie eine eigene Geschichte, bis auf der nächsten Seite, beim nächsten Bild, das nächste Motto die Handlung wieder im Sinne der Autorin lenkt.

 

"Die Bären zeigten ihr wie man isst"

Das Mädchen steht mitten im Fluss in den Stromschnellen, mit Mama Bär und zwei Bärenjungen, die Lachse springen und das Kind hat schon einen Fisch zwischen den Zähnen.

 

"Die Füchse zeigten ihr wie man spielt"

Raufen im Wesentlichen. Man sieht ein begeistert ineinander verbissenes Knäuel aus Fell, das Kind mittendrin. Und abends schlummern sie alle zusammen unter einem großen Baum.

Zunächst sind die Bilder doppelseitig, mit Farbe gefüllt von oben bis unten, von links nach rechts. Das könnte man symbolisch verstehen, für ein zufriedenes, ausgefülltes Leben, in dem nichts fehlt, und so wirkt das Mädchen auch, trotz seiner für den Leser und Betrachter etwas befremdlichen Lebensweise. Das ändert sich, als eines Tages "ein paar neue Tiere" im Wald auftauchten: Menschen, die das Kind mitnehmen um ihm in der Zivilisation ein gutes Zuhause zu geben. Die Seiten sind nur noch zur Hälfte illustriert, der Text steht auf leerem Hintergrund. Das Menschenpaar wirkt ziemlich unsympathisch, auch wenn sie es ja nur gut meinen, und das spiegelt wider, wie das wilde Mädchen aus dem Wald die beiden erleben mag: sie sprechen falsch - nicht wie das Mädchen in Krähensprache , sie spielen falsch - nicht toben, raufen und kaputtreißen, sie essen falsch - mit Messer und Gabel und nicht einfach mit den Händen.

Am Ende siegt die Wildheit über die aufgeräumte Wohnung. Das Mädchen geht zurück in den Wald, Hund und Katze nimmt es mit.

 

"Jeder erinnerte sich, wie sie verschwand und alle wussten: Es war gut, dass sie fort war."

Wild ist ein besonderes Buch: inhaltlich, optisch und auch vom Material ist es mit verziertem (!) Leinenrücken besonders gestaltet. Keine Frage. Allerdings: Dem Klappentext hätte ein bisschen zivilisierte Bescheidenheit nicht geschadet und gäbe es eine Kategorie "Stimmiges Marketing", würde "Wild" nicht so viele Punkte bekommen. Da wird das frisch erschienene Werk schon mal gleich mit den Lorbeeren eines der berühmtesten Klassiker der Kinderliteratur geschmückt und angepriesen als "zeitgemäßen Nachfolger von Maurice Sendaks Wo die wilden Kerle wohnen. Erstens: Ob eine Neuerscheinung ein Klassiker wird, weiß man erst nach ein paar Jahren, das liegt in der Natur der Sache. Und wenn es so ist, dann wird der Leser es schon von alleine merken. Zweitens ist Wild eigentlich aus sich heraus gut genug. Auch wenn die angekündigte Moral von der Geschichte, "wie wichtig es ist, Kinder in ihrer Entwicklung nicht zu bremsen, sondern ihnen Freiraum zu geben und sie die Welt in ihrer Vielfalt entdecken zu lassen" auch ein bisschen hochgegriffen ist. Abgesehen davon, dass ich nicht genau weiß, was genau das heißen soll - einfach mal das Wohnzimmer zerlegen, wenn einem nach ein bisschen Wildheit ist? - bezweifle ich, dass die Aussage beim eigentlichen Zielpublikum ankommt. Es ist für kleine Kinder nicht so leicht, sich mit diesem Kind zu identifizieren, das alle Spielsachen kaputt macht. Die kleinen Leser haben Angst, dass die raufenden Füchse es fressen wollen und sie verstehen auch nicht, wieso das Kind zu Hause immer noch so wild ist. Aus der Sicht der kleinen Leser macht das Kind tatsächlich alles falsch, nämlich anders als wir alle.

Wobei sie mit einem Heidenspaß darüber lesen. "Liest du mir das Buch mit dem bösen Mädchen vor?" fragen sie nicht nur einmal und reißen dabei die Augen auf wie das Kind auf dem Cover und sie leuchten vor Vorfreude.

Fazit

Wer ungewöhnliche Bücher mag, Bilder die anziehen, ohne niedlich zu sein, Geschichten, die nicht 1:1 einer Aussage und einer Kategorie zuzuordnen sind, hat mit Wild ein neues gefunden für seinen Bücherschatz: das Thema "Wolfskind" als Märchen, an dessen Ende das Wildsein übers aufgeräumte Wohnzimmer triumphiert. Grün und bunt und wild. Wild will ein besonderes Bilderbuch sein und das ist es auch.

Sigrid Tinz

Wild

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