Jelena fliegt

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Kinderbuch Couch
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Kinderbuch-Couch Rezension vonNov 2015

Idee

Ein Kind – sehr dick, sehr dumm, vernachlässigt und ohne Freunde – fliegt mit Ballons über seine Stadt. Daran ändert sich zwar nichts durch den Flug, aber trotzdem ist danach irgendwie alles anders.

Bilder

Ehrliche Bilder, aber niemals gemein. Alles und alle, auch die dicke Jelena, sind rund, weich, bonbonbunt und liebenswert gemalt.

Text

Kurze Sätze, die der Geschichte ihren eigenen Rhythmus geben; insgesamt eher wenig Text.

Jelena lebt auf dem Jahrmarkt, ihre Eltern haben eine Schießbude und eine Achterbahn; ihr Freund, Herr Kraft, den Hau-den-Lukas. Einmal wollte keiner der Jahrmarktbesucher auf den Lukas schlagen. Da nimmt Jelena den Hammer und schlägt so kräftig, dass der Schneller bis in den Himmel fliegt. Sie gewinnt alle Ballons, so viele, dass Jelena zu schweben beginnt und losfliegt, und die ganze Stadt von oben sehen kann.

Ein Mädchen, das getragen von vielen Ballons übers Land fliegt und mal alles von oben sieht. Das klingt nach einer schönen Geschichte und das ist es auch, das sei schon mal vorweg gesagt. Aber weil das Mädchen, Jelena, dick ist, bekommt die Geschichte noch einen ganzen anderen Dreh. Jelena ist "viel zu dick", so heißt es sogar im Buch. Und damit ist es nicht einfach nur eine Beschreibung: "dick", so wie andere dünn sind, groß, klein, hübsch, hässlich, wild, frech, zart oder blond. Mit dem "zu" wird es einer Wertung: Dicksein ist ungesund, Dicke gelten als faul und unbeherrscht, sie werden krank und bleiben ihr Leben lang erfolglos; sie gefährden das Gesundheitssystem, den Wirtschaftsstandort und passen so gar nicht ins gesellschaftliche Leistungsideal. Das erschreckende beim Lesen: man hat diese zeitgeistige Meinung schon so verinnerlicht, dass dieses "zu" uns kaum auffällt. Auch den Kindern nicht. Dank präventiver Aktionen wie "Fit statt fett" oder "Gesundes Pausenbrot" wissen schon Kindergartenkinder, wie viel Stück Zucker im Ketchup sind, dass Schokolade ein "rotes" also schlechtes Lebensmittel ist und finden "Dicksein schlimmer als behindert".

Und dann ist Jelena auch noch "viel zu dumm". Weil sie Woche für Woche in einer anderen Schule lernt der Jahrmarkt zieht ja umher musste sie fast jede Klasse wiederholen. Ihre Eltern haben keine Zeit für sie, sie arbeiten den ganzen Tag, ihre Mutter hat eine Schießbude, ihr Vater die Achterbahn. Freunde hat Jelena nicht, außer Frau Süß vom Süßigkeitenstand. Na, dann ist ja alles klar, denkt der Gesundheitsapostel in uns: Vernachlässigtes Kind, das Trost in Süßigkeiten sucht.

Das ist eine ganz schön starke, scharfe Botschaft. Zwar pocht die Autorin nicht plakativ mit dem pädagogischen Zeigefinger, zwischen den Zeilen ist zumindest ab und zu ein spitzer Fingernagel zu spüren. Aber: Die Bilder von Sonja Bougaeva fangen das alles wunderbar auf. Bunt und pastellig die Farben, die Köpfe, Bäuche, Beine sind weich und rund, und die vielen Luftballons sind wunder-wunderschön. Dabei sind die Bilder durchaus ehrlich, Jelena ist wirklich dick, nicht nur ein bisschen pummelig. Aber sie ist nicht "zu" dick. Und: Jelena ist stark auf den Bildern. Mag sie nicht in die enge Schießbude ihrer Mutter passen dann sieht man auf dem Bild, was sie stattdessen tut: auf einem großen, starken Karusselltiger reiten.

Nach den ersten Seiten hört auch der Text auf mit den subtilen Gemeinheiten. Und ab da kann man die Geschichte richtig genießen: Jelena hat noch einen zweiten Freund, Herrn Kraft vom Hau-den-Lukas. Einmal will keiner der Jahrmarktbesucher auf den Lukas hauen, da darf Jelena es. Und sie ist so stark, dass der hoch und höher saust und weil man für jeden Meter einen Ballon gewinnt, hat Jelena auf einmal so viele Ballons, dass sie gar nicht alle in der Hand halten kann und sie sich die von Herrn Kraft an Arme und Beine binden lässt. Und dann passiert, worauf wir ja schon die ganze Zeit warten:

 

"Jelena wurde ganz leicht, leichter noch als einen Wolke am Himmel. Sie schwebte hoch. Hoch in die Luft."

Sie fliegt über den Jahrmarkt, über die Stadt, an den Zimmern ihrer jeweiligen Schulkameraden vorbei. Ganz ohne Panik, ohne Gefahr. Am Ende landet sie, ganz Beherrscherin der Lage, wieder auf der Erde. Ihre Eltern haben sich große Sorgen gemacht und sie überall gesucht und alle drei umarmen sich. Und dann ist das Buch zu Ende. Ohne dass jetzt alles im einfachen Sinn gut wird: also dass die Eltern weniger arbeiten und sich mehr um ihre Tochter kümmern, sie in der Schule fördern und darauf achten, dass sie schlank und schön wird. Nichts ändert sich. Jelenas Leben wird bleiben wie es ist. Und doch ist alles anders geworden. Jelena hat sich als stark erlebt, als handlungsfähig, statt als eine Ansammlung von "Zu"-Defiziten. Sie hat sich als sich selbst erlebt.

Vielleicht musste das Buch am Anfang ein bisschen gemein sein? Damit sich diese neue Perspektive auch beim Leser einstellt. Wer weiß. Und wie gesagt, abseits von allen Botschaften ist es auch einfach eine schöne Geschichte.

Fazit

Jelenas Ballonflug ist ein Abenteuer fürs Auge, allein die vielen, vielen bonbonbunten, runden, weichen Ballons &. ein starkes Mädchen, das überhaupt keine Angst zu haben scheint. Dass der Text behauptet, Jelena sei dick und dumm, "zu dick und zu dumm", das Gegenteil ja eigentlich, lässt zwischen den Zeilen und Bildern die Erkenntnis entstehen, dass manche Menschen dick sein mögen (und dumm), aber niemals "zu"; und egal wie dick oder dumm jemand sein mag, ein Mensch bleibt er trotzdem immer.

Sigrid Tinz

Jelena fliegt

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