Jewel ist ein Juwel, doch niemand nimmt sie wirklich wahr. Sie lebt zurückgezogen in ihrer eigenen Welt und lebt ihre eigenen Rituale. Bis sie eines Tages auf John trifft, den Jungen, der genauso heißt wie ihr verstorbener Bruder - in genau dem Baum, in dem sie in jenen Nächten sitzt, in denen sie nicht schlafen kann. Ist das Zufall oder Schicksal?
Jewel lebt in einer sehr schweigsamen Familie in einem verschlafenen Nest namens Caledonia in Iowa. Ihr Großvater ist stumm; er spricht kein Wort, obwohl er es mal konnte. Ihre Eltern reden ebenfalls nicht. Jedenfalls nicht die Dinge, die einmal dringend ausgesprochen werden müssten. Jewel erzählt uns ihre Geschichte und es sind ihre Worte, die uns gleich zu Anfang von dem Drama erzählen, das der Familie in der Nacht ihrer Geburt widerfahren ist. Es ist ein großes Unglück und die Schuld liegt schwer, vor allem auf Jewels Großvater. Hätte er den kleinen John nicht Bird" genannt, wäre der damals Fünfjährige nicht von der Klippe gesprungen, in dem Glauben, er könne fliegen wie ein Vogel. Dass sein Verschwinden überhaupt so lange unbemerkt bleiben konnte, lag daran, dass in diesen Stunden Jewel zur Welt kam.
Seitdem liegt ein schwerer Schatten auf der Familie und die Geburtstage Jewels sind auch alles andere als fröhlich. Kein Pony, keine Kindergeburtstagsfeier, kein ausgelassenes Herumtollen, Jewel ist an ihrem Tag nicht die Hauptperson. Bird ist es.
"... Erwachsene hörten Kindern ja doch nie zu. Zumindest nicht richtig. Sonst hätten sie mich angesehen, wenn ich mit ihnen redete, ernst und interessiert und irgendwie erwartungsvoll, offen für das, was immer da aus meinem Mund käme, offen für alles. Ich kannte keinen Erwachsenen, der mich jemals so angesehen hätte, nicht einmal meine Eltern."
Jewel meint das Desinteresse in ihrer Familie und damit den Grund, warum sie alles Wichtige für sich behält. Wie zum Beispiel jene Klippe, von der Bird gefallen ist, sie weiß genau dass sie dort nicht sein darf. Doch es ist ihr heiliger Ort. Hier fühlt sie sich ihrem Bruder, den sie nie kennen gelernt hat, nahe. Hier kann sie ihre Sorgen loswerden. Hier hat sie ihre Freunde, ihre Jahressteine. An manchen Tagen sind es sehr viele Sorgenkiesel, die sie dort vergräbt. Sie vertraut niemandem, behält alles Echte", was sie sieht und erlebt für sich.
Das ändert sich, als sie in der Nacht nach ihrem zwölften Geburtstag auf John trifft. Den schwarzen Jungen, der gerne einmal Astronaut werden will und irgendwie traurig scheint. Er gewinnt ihr Herz im Sturm, er ist freundlich, einfühlsam und interessiert sich für Jewels Begeisterung für Geologie.
Der eine lebt für die Magie des Universums, die andere sucht die Wurzeln für alles Entstehen auf der Erde. Der Astronaut und die Geologin.
So könnte man die beiden gut beschreiben und sie ergänzen sich perfekt. Sie erzählen einander Dinge, die sie noch niemandem anvertraut haben. Sie nehmen einander mit zu ihren geheimen Orten und unterstützen einander, machen sich gegenseitig Mut. Jewel will John vor ihrer Familie geheim halten. Doch das geht natürlich nicht und die Reaktionen auf diesen freundlichen Jungen sind sehr unterschiedlich. Der jamaikanische Aberglaube von Vater und Großvater lässt beide gegen den Jungen Sturm laufen, Jewels Mutter hingegen begrüßt zunächst ihre Freundschaft. Doch John hat auch Geheimnisse und er bringt Jewel - und damit das so fragile Konstrukt der Familie - so sehr aus dem Gleichgewicht, dass alte Geheimnisse nicht länger verborgen bleiben. Am Ende eskaliert die Situation ganz furchtbar und Jewel ist dabei, den einzigen Menschen, dem sie sich je vertraut hat, zu verlieren.
"Wenn man zu schnell etwas von sich preisgab, konnte es sein, dass der andere es einfach nahm und sich damit davon machte. Und jemand wie ich, der sowieso nicht viel hatte - naja, man musste einfach vorsichtig sein mit dem, was einem gegeben war."
Diese Sätze bleiben irgendwie hängen und man denkt darüber nach, ob es vielleicht stimmt und was es über Jewel aussagt. Diesem klugen Mädchen, das die Welt, wie sie sie sieht, mit niemandem teilen kann. Dafür sind zu viele zerstörerische Mächte am Werke und Crystal Chan versteht es sehr gut, die Mauer des Schweigens und die dahinter verborgene Wut und die Trauer in den einfachen und doch so treffenden Worte mitschwingen zu lassen. Und treffend" sind sie im doppelten Sinne, denn mich haben sie direkt ins Herz getroffen, so echt empfand ich die Beschreibungen von Jewel, der sie ihre Stimme gegeben hat. Viele Gefühle Jewels dürften Kindern nur allzu bekannt sein, wie auch ihre Beobachtungen. So stellt sie die Frage, ob Eltern wissen, wie sie klingen, wenn sie sich streiten. Sind sie sich der Kälte in ihren Stimmen bewusst? - ihrer Erschöpfung, ihrer Wut?
Wer hat Schuld?
Ist es Jewel, die in diesen verhängnisvollen Stunden zur Welt gekommen ist? Ihr Vater, der auf ihren Bruder nicht gut genug aufgepasst hat? Ihr Großvater, der doch nicht ahnen konnte, dass der fünf Jahre alte Junge tatsächlich glaubt er könne fliegen? Am Ende muss ein jeder sich selbst vergeben. Es ist schwer einzugestehen, dass niemand die Schuld trägt, dass es einfach passiert ist. Genau das zu akzeptieren, ist für Großvater und Eltern so schwer, dass sie jeden Tag mehr überleben als leben.
Jewels Worte lassen das ständige Unbehagen, das vollkommene Fehlen von Unbeschwertheit fast greifbar werden. Dabei ist die Sprache der Autorin, Crystal Chan, nicht etwa nur bedeutungsschwer und anklagend, sondern es zeigt sich ihr gutes Gespür für besondere Momente, für die Natur, für kurze Blicke - für das Leben, das Jewel ganz intensiv in sich aufnimmt. Ihre klaren, bildhaften Beschreibungen nehmen die Leser/innen mit in Jewels Welt, die einerseits von Geistern aus dem jamaikanischen Aberglauben und andererseits von der fast sturen Rationalität der Mutter geprägt ist. Und doch gibt es immer wieder humorvolle Momente: die gute Beobachtungsgabe Jewels entlarvt skurril-komische Momente und ihre Schlagfertigkeit bringt Schwung in die Dialoge.
Das Cover ist schon eine echte Einladung. Allgemein hat der noch junge Magellan Verlag ein sehr gutes Händchen für schöne Designs, aber dieses hier dürfte Mädchen sehr ansprechen. Ebenso wie das eigenwillige und kluge Wesen Jewels, ihre vielen kleinen und großen Geheimnisse, wie sie alle Mädchen haben. Es dauert eine Weile, bis man in Jewels Welt angekommen ist. Doch die vielen Details, die Crystal Chans Geschichte so lebendig machen, lassen die Leser neugierig bleiben. Zuviel will ich an dieser Stelle nicht verraten, aber zum Ende hin wird es ein echter Krimi. Und auch wenn die Geschichte aus der dramatischen Kurve wieder in eine etwas sanftere Gerade zurückkehrt, bleibt sie fesselnd. Weil Chan einfach auf faszinierende Weise beschreibt, wie etwas Neues gedeihen kann. Weil ihre Geschichte glaubwürdig ist.
Fazit:
Crystal Chans Bird und ich und der Sommer, in dem ich fliegen lernte ist ein mitreißendes und außergewöhnlich schönes Buch über einen Neuanfang. Es richtet den ehrlichen Blick eines Kindes auf eine zutiefst unglückliche Familie und ist dennoch in seinem Kern so positiv und voller Hoffnung - wie seine Heldin.
Stefanie Eckmann-Schmechta, Februar 2015
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