Walter ist eine echte Leseratte. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Denn diese Ratte, die sich selbst nach Sir Walter Scott benannt hat, weil Ratten ja eigentlich keine Namen haben, konnte es einfach eines Tages: Lesen. Die zurückhaltende Ratte ist in die Jahre gekommen und lebt nun bei der Kinderbuchautorin Miss Pomeroy. Er lebt im Verborgenen und versucht seine Existenz im Haus der eigenwilligen Schriftstellerin möglichst zu verbergen. Doch als Walter eines Tages liest, dass seine von ihm bewunderte Miss Pomeroy nur über Mäuse schreibt, wendet er sich mit einem Brief an sie...
Das schöne, handliche Büchlein mit Leinenrücken ist erstmals 2005 erschienen und seit September 2013 wieder lieferbar. Im Original lautet der Titel "Walter, The Story of a Rat", was dem Inhalt im Großen und Ganzen eher entspricht. Denn erst am Ende, am Weihnachtsmorgen, erhält der kleine Ratz sein großartiges Geschenk - und was ihn wohl noch glücklicher machen dürfte: Er sitzt, wie er es sich immer gewünscht hat, wie ein Freund neben Miss Pomeroy und blickt mit ihr in den friedlichen Garten.
Miss Pomeroy lebt sehr zurückgezogen und spricht, wenn überhaupt, nur mit sehr wenigen Menschen. Und nur zu sehr wenigen Menschen ist sie nett. Die meiste Zeit ist sie mit sich, ihren Büchern und Manuskripten allein. Sie hält das Haus mehr als leidlich in Ordnung und der schöne Garten, den Walter gerne an sonnigen Tagen besucht, verwildert mit jedem Jahr mehr. Dabei hat die ältere Dame einmal angegeben, dass sie gerne koche und im Garten arbeite. Davon ist dieser Tage jedoch nichts zu merken. Das wundert Walter, wie auch die Tatsache, dass sie noch nicht einmal zu Weihnachten von jemandem Post erhält, noch Post an andere verschickt.
Warum die alte Dame so menschenscheu, ja teilweise verdrießlich ist, das erfahren wir nicht im Detail. Tatsache ist, sie ist ebenso einsam wie Walter. Doch ganz im Gegensatz zu seiner Annahme, er sei unentdeckt, ist sie sich seiner Anwesenheit durchaus bewusst. So sind ihre ersten Briefe auch etwas harsch und sie bittet ihn, bestimmte Dinge in Zukunft zu unterlassen. Doch Walter gibt nicht so schnell auf und eines Tages und einige Briefwechsel später, hat er schließlich den Mut, die Kinderbuchautorin zu fragen, warum sie in ihren Büchern den Mäusen den Vorzug gibt.
Walter, der schon mit dem Ärger der älteren Dame rechnet, wird durch einen freundlichen und aufgeschlossenen Brief überrascht: Er habe Recht - aber es gebe auch Bücher über Ratten. Miss Pomeroy nennt ihm einige davon und Walter hat nun eine Menge nachzuholen. Doch die schönste Geschichte, die je über eine Ratte geschrieben wurde, die wird erst noch geschrieben.
Barbara Wersba, die viele Jahre für die New York Review of Books als Theater- und Fernsehautorin tätig war und über 30 Kinderbücher geschrieben hat, schreibt in einer zeitlosen Sprache, die ebenso präzise wie zart ist. Mit feinem Humor schildert sie die Perspektive von Walter. Seine Sicht auf die Welt ist schlicht, aber er bringt dennoch vieles sehr klug auf den Punkt, so dass wir ihm gerne in seine Geschichte folgen. Walter erzählt uns von seinem Leben, von der Einsamkeit und dem Gefühl, ein zutiefst unverstandenes Geschöpf zu sein. Vielleicht ein Gefühl, das Walter mit der älteren Dame teilt - ebenso wie ihre gemeinsame Liebe zur Literatur. Diese Verbindung ist beinahe greifbar und doch entwickelt sie sich langsam. Das macht das Lesen einfach spannend - wie auch die Tatsache, dass die Vorstellung einfach reizvoll ist, dass ein so intelligenter tierischer Mitbewohner das Haus teilt. Dass er es sich in einer verborgenen Ecke behaglich gemacht hat und bei Kerzenschein die Bücher liest, die er in Miss Pomeroys Bibliothek vorfindet und immer rechtzeitig zurückbringt, damit sie nichts merkt. Dass er Briefe schreibt, die allesamt sehr höflich und ordentlich verfasst sind. Die meisten von uns werden Ratten nun nicht gerade niedlich finden; mit vielem, das Walter darüber sagt, wie sehr sein Volk von uns Menschen verabscheut wird, hat er einfach Recht. Und warum sind die Helden in so vielen Kindergeschichten überwiegend Mäuse? Damit erzeugt Barbara Wersba wie von selbst eine zweite Ebene, die uns alle anspricht und uns für Walter einnimmt. Eine schöne Geschichte, gerade für Kinder ab acht Jahren, die schon selbstständig lesen. Sie werden es genießen, in eine Welt einzutauchen, die realistisch und fantastisch zugleich ist.
Fazit:
Zusammen mit den wunderschönen, federleichten und filigranen Illustrationen von Donna Diamond ist dieses Büchlein einfach ein Schatz. Die schönen, detailreichen Darstellungen von Walter und seinem Leben im Haus von Miss Pomeroy sind ebenso zeitlos wie die Geschichte selbst, die von zwei außergewöhnlichen Charakteren erzählt, die auf den ersten Blick gar nichts gemein haben, aber doch das wichtigste im Leben teilen.
Stefanie Eckmann-Schmechta, Dezember 2014
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