Mein Dschinn

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Sigrid Tinz
80%1001

Kinderbuch-Couch Rezension vonNov 2014

Idee

Ein Junge aus instabilen Verhältnissen sucht seine Mama, quer durch die Welt und alle Themen, die sie uns heute zu bieten hat, von Drogenabhängigkeit bis Asylpolitik; weil ein guter Geist ihm hilft, geht alles gut aus.

Text

Der Junge Lars tritt als Ich-Erzähler auf, hat einen sehr erklärenden, erwachsenen, manchmal belehrenden Tonfall.

Lars, elf Jahre alt, lebt im Kinderheim: Vater abgehauen, Mutter nach Indien entschwunden, der Großvater gestorben. Einzig der Freund seiner Mutter, der iranische Asylsuchende Aarian, besucht ihn von Zeit zu Zeit und macht ihm Mut. Irgendwann kommt auch der nicht mehr. Dafür ein neuer Betreuer, den Lars nicht leiden kann. Und dann wird es Lars zu viel und er haut ab.

Seinen Vater hat Lars nie kennengelernt, seine Mutter ist vor drei Jahren nach Indien entschwunden. Sein Großvater, bei dem er gelebt hat, ist vor eineinhalb Jahren gestorben und seitdem lebt der 11-jährige im Kinderheim. Nur der Ex-Freund seiner Mutter, der Asylsuchende Aarian, besucht ihn regelmäßig, spielt mit ihm Schach, erzählt ihm Geschichten. Dann kommt auch der nicht mehr. Einfach so von heute auf morgen, ohne ein Wort zu sagen.

Ein ziemliches Schicksal - das Lars aber recht gut verkraftet hat. Er erzählt mit einem Abstand von drei Jahren seine Geschichte, nachdem alles im Grunde gut ausgegangen ist. Mit dieser Gewissheit dürfte es auch den Leserinnen und Lesern nicht zu schwer ums Herz werden.

Denn erst mal wird es immer schlimmer. Ein neuer Betreuer kommt ins Kinderheim, der von der Zahnpastamenge bis zur Lebenseinstellung alles erschnüffelt und dem man nichts recht machen kann. Lars beschließt, abzuhauen. Seine Mutter finden. Oder Aarian. Der hat ihm mal eine Geschichte erzählt, von einem Dschinn, einer Art guter Geist, so wie in Aladin und die Wunderlampe. Dass auch er, Lars, so einen Dschinn irgendwann treffen wird: "Er wird dir den Weg zu deiner Mutter weisen."

Als Lars im strömenden Novemberregen am Straßenrand steht und hofft, dass ihn jemand mitnimmt, denkt er wieder an diese Geschichte. Dann hält tatsächlich jemand an, ein älterer Mann, Typ rau aber herzlich, und etwas seltsam. Ein Dschinn? Möglicherweise, denn er nimmt den Jungen nicht nur mit, gibt ihm trockene Kleider und etwas Warmes zu Essen und ein Bett für die Nacht, sondern er kennt dessen Geschichte und: er lässt ihn in eine geheimnisvolle Wasserschüssel schauen, in der Lars seine Mutter in einem römischen Stadtpark picknicken sieht - und am nächsten Morgen wacht Lars genau in diesem Stadtpark in Rom auf, ohne zu wissen, wie er dahin gekommen ist.

Nach dieser kleinen übersinnlichen Handlungsbeschleunigung geht erst mal sehr lebensecht weiter: Zu Hause wird Lars als vermisst gemeldet, der "Dschinn" als Kindsentführer polizeilich gesucht. Als Taschendieb arbeitende Roma-Kinder nehmen den verdatterten Lars mit in ihr Camp, Lars darf, soll, muss bleiben und für Kost und Logis arbeiten, heißt: klauen lernen. Nach einem Gespräch mit dem Camp-Chef ist klar, dass der ihn erwartet hat. Dass auch Lars Mutter bis vor kurzem hier gelebt hat - bis sie erneut verschwunden ist.

Kompliziert und geheimnisvoll! Das macht auch die Spannung des Buches aus: wir wollen wissen, was das alles auf sich hat, lesen weiter, in der Hoffnung, zu verstehen, worum es geht.
Lars läuft wieder weg, zusammen mit dem Mädchen Suni - die keine wichtige Rolle spielt, aber für ein klein bisschen Schmetterlinge im Bauch sorgen kann, bei den Leserinnen und Lesern, die für so etwas schon Antennen haben. Unterstützt vom Dschinn - der immer dann zuständig zu sein scheint, um die Handlung mit übersinnlichen Fähigkeiten so schnell und sicher voranzutreiben, wie es zwei weggelaufene Kinder ohne Geld und Handy nie schaffen könnten - treffen sie Aarian. Der hat Lars Mama bei sich, die durch einen Unfall das Gedächtnis verloren hat und verfolgt wird, von einem Guru in Indien, bei dem sie lange gelebt hat bis sie dessen Drogengeschäften auf die Spur gekommen ist. Von dessen Mittelsmännern wird sie dann auch gleich wieder entführt, zurück nach Indien.

Wieder erscheint der Dschinn, "materialisiert" ein paar Edelsteine, mit denen Aarian Flugtickets und gefälschte Pässe für sich, Lars und Suni besorgt und dann geht es mit dem Flieger über Zürich, wo der Dschinn dann auch echt körperlich zusteigt. In Indien gibt's auch gleich viele Freunde und Helfer und auf einer langen Fahrt geht es durchs Land, zum Ashram wo Lars Mutter gefangen gehalten wird.

Diese lange Fahrt ist ein Geschenk des Himmels, denn sowohl Lars als auch der Leser kann hier durchschnaufen und versuchen, mit Hilfe der Gespräche zwischen Lars, Aarian und dem Dschinn die ganze Sache klar zu kriegen: Aarian war Asylsuchender, akut von Abschiebung bedroht und musste von heute auf morgen untertauchen - deswegen ist er einfach ohne Abschied verschwunden. Lars Mutter war heroinabhängig und in Indien, beim Guru, auf Entzug, der sie von ihrer Sucht geheilt hat, jetzt aber unschädlich machen will, weil sie herausgefunden hat, dass er gleichzeitig auch selber Drogenhändler ist.

Stark an diesem Buch ist, dass der Autor unsere wahre Welt mit ihren aktuellen Hässlichkeiten wie Drogenhandel, Flüchtlingspolitik, Kriminalität darstellt. Themen, vor denen viele seiner Kollegen ihre kindlichen Leser zu bewahren versuchen - was natürlich nicht geht, weil die Kinder durch Radio und andere Medienfetzen genug davon mitbekommen.

Die hochinteressanten Einblicke in die verschiedenen Milieus Kinderheim, Roma-Lager, Ashram, Illegalenszene bleiben leider etwas blutleer, weil der Junge Lars in seiner Erzählung des Öfteren nicht wie ein 11-jähriger redet, sondern eine Tick zu abgeklärt, mit einem Hang zu Küchenpsychologie und Floskeln: Die Mutter habe in den falschen Kreisen verkehrt und war in schlechte Gesellschaft gekommen; sie "hing an der Nadel" und habe "die ganze Zeit nur an den nächsten Schuss gedacht", sei "nach Indien gegangen, um ihre Sucht zu überwinden", das war hart, aber mit Hilfe des Gurus, der die Fähigkeit hat "Drogensüchtige aus dem Westen von ihrer Sucht zu befreien" kam sie durch die "schlimmste Zeit, die Entwöhnung". Und um sie aus den Klauen dieses Gurus zu befreien, "müssen wir mit List vorgehen, uns erst mal tarnen und einen Plan aushecken".

Am Ende gibt es einen Showdown zwischen dem Guru und dem Dschinn, die mit ihren magischen mentalen Kräften gegeneinander kämpfen. Lars kann seine Mutter befreien und alles fügt sich nach und nach zum Guten.

Das Buch ist hochinteressante Lektüre für Kinder mit Leseerfahrung und gesellschaftlichem Interesse, die sich von den genannten kleinen Schwächen nicht gleich aus dem Lesefluss schmeißen lassen, aber kein Selbstläufer. Für Kinder - oder Eltern - die hinter dem Titel und dem schwarzen, magischen Cover einen actionreichen Fantasy Roman erwarten - ist das Buch nichts.

Fazit:

Ein wohlkonstruierter Roman über einen Jungen aus schlimmen Familienverhältnissen, der quer durch die Welt reist, um seine Mutter zu finden. Und dabei viele Themen streift, die diese Welt uns heute zu bieten hat, von Drogengeschäften bis zur Asylpolitik. Die Message, den Kindern Denkanstöße geben zu wollen, hört man deutlich heraus - nimmt es dem Buch aber kaum übel, weil es - auch - ein spannender Abenteuerroman ist.

Sigrid Tinz, November 2014

Mein Dschinn

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