Im Keller wohnt das Dunkel. Und das Dunkel macht Leo Angst. Deshalb begrüßt er es jeden Morgen von der Kellertreppe aus. Denn wenn er das Dunkel besucht, so denkt sich Leo, dann wird es nicht in sein Zimmer kommen. Doch eines Nachts ist das Dunkel plötzlich da.
Die ersten zwei Seiten: pechschwarz. Dann ein kleiner Junge mit ängstlichem Gesicht am Bildrand, in der Hand eine Taschenlampe, deren gleißender Strahl die Dunkelheit zerschneidet. Die Angst des kleinen Leo vor der Dunkelheit ist geradezu körperlich spürbar: So packend hat schon lange kein Bilderbuch mehr die kindliche Urangst vor der Dunkelheit zum Thema gemacht.
Die Geschichte ist schnell erzählt. Leo fürchtet sich, wenn sich am Abend allmählich die Dunkelheit ausbreitet, wenn sie das Licht verdrängt und sich über die Fenster und Türen von Leos Haus verteilt. Tagsüber dagegen weiß er, wo sich das Dunkel, wie er es nennt, aufhält: Im Keller ist es zu Hause:
"eingeklemmt zwischen alten, klammen Schachteln und einer Kommode, die nie jemand öffnete"
Damit das Dunkel ihn zumindest in seinem Zimmer in Ruhe lässt, stattet Leo ihm jeden Morgen einen Besuch ab. Von der Kellertreppe aus, in gebührendem Abstand, ruft er ihm ein "Hallo" zu.
Doch eines Nachts kommt das Dunkel trotzdem in sein Zimmer. Und es lädt Leo ein, ihm zu folgen:
"Ich möchte dir etwas zeigen."
Leo folgt ihm, bis in den Keller. Und lernt das Geheimnis des Dunkels kennen. Ein Geheimnis, das ihn das Dunkel mit anderen Augen sehen lässt. Und das ihm die Angst vor der Dunkelheit nimmt.
Dass dieses Bilderbuch mehr ist als eine weitere in der langen Reihe von Geschichten über Kinder, die ihre Angst vor dem Finstern überwinden, liegt daran, dass hier die Dunkelheit selbst zum Akteur wird, im Text wie im Bild. Die nachtschwarzen Segmente in den Illustrationen ziehen nicht nur den kleinen Leo, sondern auch den Betrachter förmlich in den Keller hinein.
Der Text des US-Amerikaners Lemony Snicket und die Illustrationen des Kanadiers Jon Klassen sind meisterhaft ineinander verwoben. Wenn Leo mit dem Dunkel spricht, dann stehen die Worte des kleinen Jungen in schwarzer Schrift auf den hellen Passagen der doppelseitigen Bilder, die Sätze des Dunkels dagegen in weißer Schrift auf schwarzem Grund: Der Dialog, der nur ganz wenige Worte benötigt, wird auch optisch nachvollziehbar.
Jon Klassens Bilder sind sehr reduziert: schwarze Linien, ineinander verlaufende Hintergrundfarben und immer wieder die klaren Schnitte zwischen Hell und Dunkel. Auch die Gestalt des kleinen Leo ist auf das Wesentliche reduziert, auf seine Mimik, die seine Furcht sichtbar macht, ohne dass seine Gefühle im Text erwähnt werden müssen.
Leo verliert seine Angst, weil das Dunkel ihm eine Glühlampe schenkt. Doch das ist nur ein Symbol: Leo verliert seine Angst, weil er erkennt, dass Licht und Dunkel zusammengehören, dass nur das Dunkel das Licht sichtbar macht.
Fazit: Dunkel spricht nicht einfach über eine große Kinderangst, sondern es sorgt dank der großartigen optischen Umsetzung dafür, dass sie - ebenso wie der Weg aus der Angst - fühlbar und nachvollziehbar wird. Das macht dieses Bilderbuch so faszinierend.
Eva Dignös, September 2014
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