Alfie ist ein kleiner Junge, der in London lebt und eigentlich nur seinen fünften Geburtstag feiern will. Aber dann beginnt genau an diesem Tag der Erste Weltkrieg. Und bestimmt für die nächsten Jahre Alfies Alltag.
Der Erste Weltkrieg, das sagt ja schon das Wort, betraf und betrifft nicht nur Deutschland. Aber der Blick, den wir darauf haben, in Büchern, in der Schule, in den Medien ist doch sehr auf "uns" gerichtet. Auch wenn wir heute alle viel weltoffener und europäischer sind als vor 100 Jahren, als England und Frankreich der "Erbfeind" waren, geht es doch meist um deutsche Generäle und Entscheidungen, um "unsere" Soldaten, Uniformen, um "unsere" Frauen und Kinder zu Hause an der so genannten Heimatfront. Das ist auch nicht schlimm und wahrscheinlich ziemlich normal, aber interessant wäre es doch, zu erfahren, wie die Menschen in anderen Ländern den Ersten Weltkrieg erlebt haben.
Deswegen ist dieser Roman besonders interessant, denn er spielt in London, in England also. Im Laufe der Lektüre wird schnell klar, dass es eigentlich kaum Unterschiede gibt, englische Eltern und englische Kinder sind nicht anders als deutsche und die Frage, warum man sich denn überhaupt gegenseitig totschießt, wird nicht leichter zu beantworten.
Wobei diese Frage nicht explizit im Buch aufgeworfen wird.
Denn es ist ein Roman und kein als Geschichte getarntes Sach- oder Lehrbuch - wie so manches andere anlässlich des 100. Jahrestages erschienenes Kinder- oder Jugendbuch. Historische Fakten, Namen, Zahlen kommen nur dann vor, wenn sie für Alfie interessant sind oder Einfluss auf seinen Kinderalltag haben. Das mag den Nachteil haben, dass sehr am Thema interessierte Kinder nach der Lektüre mehr Fragen haben als vorher (siehe dazu auch das Special auf der Kinderbuch-Couch und auf der Jugendbuch-Couch). Es hat aber ganz klar den Vorteil, dass das Buch nicht aus Anspruch auf Vollständigkeit mit Sachwissen überlastet ist und handelnde Personen einfach sie selbst sein können und nicht dazu da sind, unseren Kindern gestelzte politische oder moralische Botschaften nahezubringen.
Nicht der Erste Weltkrieg ist Hauptperson und Held, sondern: Alfie.
Alfie ist ein kleiner Junge, der mit seiner Mutter und seinem Vater in schlichten, aber soliden Verhältnissen in London lebt und eigentlich nur seinen fünften Geburtstag feiern will. Aber dann beginnt an genau dem Tag der Erste Weltkrieg. Sein Vater meldet sich sofort freiwillig zur Armee, dessen Freund, überzeugter Pazifist und Kriegsverweigerer, wird verhaftet; Alfies kleine Spielfreundin und ihr Vater werden auf einer Insel interniert, weil sie Österreicher sind - mit dem England ja gerade offiziell verfeindet war.
Alfie wird 6, dann 7, dann 8, dann 9; sein Vater ist immer noch Soldat an der Front, seine Mutter ist streng geworden und immer müde, sie arbeitet rund um die Uhr, weil alles teurer wird. Auch Alfie hilft als Schuhputzjunge aus und geht nur noch selten zur Schule - die jungen und guten Lehrer sind alle an der Front, geblieben sind nur alte, von denen die Kinder in erster Linie Schläge und nur wenig beigebracht bekommen . Es gibt keine Süßigkeiten mehr, Brot nur noch ohne Butter und Oma weint viel.
Alfie ist kein richtiger Ich-Erzähler, aber alles wird aus seiner Perspektive geschildert, ein wenig kindlich naiv und gleichzeitig logisch und scharf. Und ein bisschen lustig. Zum Beispiel trinkt er jeden Morgen, wenn seine Mutter schon zur Arbeit ist, Tee. Der schmeckt ihm eigentlich gar nicht, aber er kommt sich wichtig vor, wenn er morgens am Tisch sitzt, vor sich einen dampfenden Becher: "er fühlte sich dann immer sehr erwachsen".
Nach einer Weile bleiben die Briefe seines Vaters aus. Die Mutter sagt, er sei auf einer geheimen Mission unterwegs und dürfe nicht schreiben und keine Briefe bekommen. Alfie glaubt ihr nicht. Und per Zufall findet er heraus, wo sein Vater wirklich ist: in einem Lazarett für Soldaten, die Lärm, Hunger, Dreck und Elend der Front verrückt gemacht haben. Alfie fährt heimlich hin und besucht seinen Vater; der ihn kaum erkennt, denn er scheint in seiner eigenen Welt zu leben und gerät wegen Kleinigkeiten in Panik. Diese Szenen sind die einzigen wirklich harten in diesem Buch - ein Lazarett ist kein ruhiger, angenehmer Ort und es riecht komisch. Gerade deshalb beschließt Alfie seinen Vater da herauszuholen. Und er schafft es, wie, wird nicht verraten; nur, dass es spannend und fantastisch und ein bisschen konstruiert ist. Alle sind besorgt, wohin der Patient verschwunden sein könnte und auch dem Vater geht es ohne Tabletten nicht besonders gut; an die hat Alfie in der Aufregung natürlich nicht gedacht, auch nicht, wie es insgesamt weitergehen soll. Bevor die Situation eskaliert, ist der Krieg zu Ende und alle freuen sich. "Nicht sehr vernünftig, aber alles ist gut geworden." Das sind die letzten Worte im Buch und sie passen perfekt.
Fazit
Der 5-jährige Alfie ist ein bisschen eigen, aber ein netter und kluger Junge und so folgt man ihm gern durch dieses Buch und seine weiteren Lebensjahre, in denen der gerade begonnene Erste Weltkrieg mehr und mehr seinen Alltag bestimmt. Alfies Vater ist Soldat und als der verschwindet, wird es richtig abenteuerlich.
Sigrid Tinz, Juli 2014
Deine Meinung zu »So fern wie nah«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!