» Herr Sowa, die Welt ist groß! « sagt Ben zu seinem besten Freund, der Schildkröte. Oh ja, das ist sie! Jeden Tag passiert etwas Aufregendes. Etwas Alltägliches. Etwas aufregend Alltägliches. Oliver Scherz wirft die Leser mitten hinein in die Welt eines Vorschulkindes: ins Abenteuer des Alltags. Manchmal stellt sich Ben vor, er sei ein Indianer, aber eigentlich braucht er weder Pfeil noch Bogen. Und schon gar keine Cowboys! Der Besuch beim Arzt, die erste Nacht beim Großvater, die Mädchen nebenan, das geheime Baumhaus... das ist Action genug - vor allem wenn die schnellste Schildkröte der Welt gähnend langsam aus der Tasche guckt.
Es geht also um Ben. Einen Blondschopf mit allerlei Flausen im Kopf. Einen liebenswerten Vorschuljungen, der seinen Platz in der Welt sucht. Einen Indianerhäuptling, der den Schmerz kennt, auch die Sehnsucht und das Heimweh. Einen Tierschützer, der etwas von Mädchen hält. Einen liebenswerten Frechdachs, der regelmäßig knallrot wird - und auch Grund dazu hat. Es geht aber nicht nur um ihn. Wie gerne übersehen wir - in Eile - die kleinen Dinge, die doch einen großen Unterschied machen. Nicht "Ben" ist der Titel, sondern "Ben.". Der Punkt - das verrät das Cover - ist die Schildkröte, Bens allerbester Freund und treuer Begleiter: Herr Sowa, den er vor einem Jahr aus der Zoohandlung "freigekauft" hat.
Eigentlich ist das ganze Buch voller Schildkröten: Sie streunen herum und tummeln sich auf den Seiten. Denn die Inflation der Punkte ist es, die dem Text seinen Rhythmus gibt und zum szenischen Lesen verführt! Man mag sie vermissen - die Sätze. Aber auch Zeitungen lieben ja Ellipsen. Und hier ist das auch gut so, denn sonst ginge der Witz verloren, der sich hinter jeder Ecke - oder doch hinter der nächsten Schildkröte verbirgt. Im Präsens und überaus lebendig erzählt uns Ben von seiner Welt. In einem Moment teilen wir seine Gedanken, dann wieder scheinen wir die Szene von außen zu beobachten. Unvorbereitet kracht ein Kommentar der Mutter ins kindliche Bewusstsein - Hilfe, das lässt sich gar nicht verbinden!
"Zum Glück liegt ein ganzes Meer zwischen uns"
Wie soll Ben bloß "schnell" aus dem Wäschekorb kommen, nachdem er das Bad geflutet hat? Er sitzt doch im U-Boot und das braucht Zeit zum Aufstieg. Dass Missverständnisse die Regel jeder Kommunikation sind, ist längst bekannt. Der Austausch zwischen Eltern und Kind stellt jedoch einen amüsanten Spezialfall dar. In vielen Situationen sind die Kinder so im Spiel vertieft, dass eine ganz eigene Logik zum Tragen kommt. Dann muss die Reaktion von den Erwartungen der Erwachsenen abweichen: Und zwar nicht aus Unartigkeit, sondern weil die Botschaft in einen anderen Kontext rückt und anders beurteilt wird. Aber selbst wenn das nicht der Fall ist, wenn beide auf ähnliche Art denken, können sich Ben und seine Mutter noch lange nicht verstehen. Kommunikation ist nun mal schwierig.
"Das tut nicht weh!" verspricht die Mutter Ben beim Arzt. Da bekommt er es mit der Angst zu tun. Die Spritze muss also doch wehtun, soviel ist klar. Er schreit wie am Spieß. Der Einstich ist schnell vorbei und es hat gar nicht geschmerzt. Jetzt fühlt Ben sich hintergangen - und weint noch heftiger. Er ärgert sich, dass seine Mutter ihm unnötig Angst gemacht hat und auch, dass er nicht so mutig war, wie es einem Indianer gebührt. Deshalb kann er auch nicht zugeben, dass es gar nicht schlimm war. Also lässt er sich im Auto nicht hinsetzen. Die Mutter ist zunehmend genervt. Zu Hause verkriecht Ben sich im dunklen Keller - ob er noch böse ist, fragt die Mutter. Dabei stellt Ben sich nur seiner Angst um sich zu beweisen, dass er eben doch Mut hat. Gemeinsam mit seiner Mutter raucht er Friedenspfeife (seine Flöte) und schwört, als sie weg ist, "das nächste Mal tapferer zu sein" - "Herr Sowa ist [sein] Zeuge."
Eine Schildkröte ist eine Schildkröte ist eine Schildkröte
Weil sie nicht so schnell weglaufen kann, hat Ben sich für eine Schildkröte entschieden. Er nimmt Herrn Sowa überall mit hin: klar, er ist ja sein bester Freund. Den braucht er auch, denn meistens tigert er alleine durch die Gegend. "[I]rgendwo muss ich auch sein dürfen", denkt Ben als er in das Baumhaus seines Bruders eindringt. Alex spielt gerne aus, dass er älter ist. Er zeigt ihm: du nervst! Oder bringt ihn dazu Verbotenes zu tun. Von ihm be- und geachtet zu werden, ist für Ben das Größte. Umso böser ist er auf Herrn Sowa, als dieser dafür sorgt, dass sie im Baumhaus entdeckt und rausgeschmissen werden. Da macht Ben den Reißverschluss seiner Jackentasche kurzerhand ganz zu...
Gut geht es Herrn Sowa vermutlich nicht immer. Aber er erlebt ein Abenteuer nach dem anderen. Er soll sogar "das Schnellsein" lernen. Ben setzt ihn auf ein Floß und lässt ihn gegen einen Käfer antreten. Herr Sowa gewinnt das Wettschwimmen, weil er die "Todesrutsche" hinunter saust als Ben den Staudamm zum Einsturz bringt. Ups! Eines Tages ist Herr Sowa dann plötzlich krank. Im Puppenbett fühlt er sich nicht so wohl, wie er sollte. Und der Tierarzt bringt es auf den Punkt: "Eine Schildkröte ist eine Schildkröte." Herr Sowa wird zwar wieder gesund, aber mit auf Spritztouren darf er nicht mehr gehen. Es wird eine Freundin für ihn "freigekauft" und dann muss er im "Glashaus" bleiben, sich "unter der warmen Lampe sonnen" und mit dem "Wasser blubbern."
Ab jetzt musst du Schulkindersachen machen...
Auch für Ben ändert sich einiges. Er freundet sich mit Ina, der neuen Nachbarin, an. "Im Gegensatz zu Alex" hat er "nämlich beschlossen etwas von Mädchen zu halten". Die erste Begegnung war zwar durchaus peinlich, aber das ist schnell vergessen. Denn die Nachbarn sind total nett und mit Ina kann man sogar Süßigkeiten stehlen. Schön, dass sie in dieselbe Klasse kommen, als nach den Ferien die Schule beginnt. Gemeinsam fliegen sie über den Schulhof. "Über Nacht" ist Bens Welt "gewachsen". Selbst Alex nennt ihn nun seinen "großen kleinen Bruder". Mal sehen, was der noch so alles erleben wird...
Es wäre keine große Überraschung, wenn Oliver Scherz in naher Zukunft "nachlegen" sollte. Zu verführerisch ist die Idee aus "Ben" eine neue Erfolgsserie à la René Goscinnys "Der Kleine Nick" zu machen. Dabei ist allerdings Vorsicht angebracht. Vieles bleibt in "Ben" unspezifisch: man erfährt zum Beispiel nicht wo er wohnt. Schlüsselpersonen - wie seine Mutter, sein Bruder oder Ina - sind eindimensional dargestellt. Wir erfahren letztlich wenig über Bens Alltag und sein Leben. Die Szenen könnte jeder kleine Junge erleben und vielleicht verleiht ihnen gerade dies auch einen Reiz. Sollte es jedoch Nachfolge-Bände geben, ist eher zweifelhaft, ob das Konzept trägt. Dann möchte man doch mehr erfahren über Ben, Punkt.
Fazit
Der Moment ist es, der zählt. Hier und jetzt passiert so viel. Mit Humor und einer guten Portion Sprachwitz wird der Alltag eines Kindes zum Abenteuer.
Anneka Esch-van Kan, Juli 2014
Deine Meinung zu »Ben«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!