Kann eine Muschel ein Allheilmittel für eine zerbrochene Freundschaft sein? Sicher nicht ohne weitere Erklärungen, aber Romy lernt mit Hilfe einer Muschel eine wichtige Lektion in Sachen Freiheit und Loslassen...
Romy und Nika sind beste Freundinnen. So lange jedenfalls, bis sie sich übers Drachensteigen lassen komplett zerstreiten. Nika will den Drachen hoch steigen lassen, lange Leine, Freiheit. Doch Romy will nicht. Sie hat Angst, den Drachen in luftige Höhen steigen zu lassen und ihn dann nicht mehr festhalten zu können. Daher stürzt er nicht nur ständig ab, nein, Nika wird auch schrecklich wütend, beschimpft Romy und rennt davon. Auch am nächsten Tag will Nika nichts von ihr wissen. Traurig setzt Romy sich an den Strand und sieht einer Frau zu, die Muscheln aufhebt und sie gleich wieder ins Meer wirft. Romy und Mara kommen ins Gespräch, über Freundschaftsversprechen, Geburtstagseinladungen und Einsamkeit. Schließlich schenkt Mara Romy eine Muschel und bittet sie, diese nach einer gewissen Zeit wieder ins Meer zu werfen. Doch Romy kann sich nicht trennen, zu schön findet sie die Muschel. Aber bei dem Versuch, sich eine Kette daraus zu basteln, zerbricht sie ihr.
Am nächsten Tag verteilt Romy noch einmal Einladungen zu ihrem Geburtstag, diesmal mit einem Datum für die Rückantwort. Doch Nika wirft ihr die Karte vor die Füße und teilt ihr unmissverständlich mit, dass sie nicht kommen wird. Später trifft Romy Mara, die ihr sofort ansieht, dass etwas nicht stimmt. Zögernd berichtet Romy ihr von dem Unglück mit der Muschel. "Du wolltest sie nicht verlieren, aber gerade deshalb hast du sie verloren." fasst Mara für Romy zusammen. Sie schenkt Romy eine noch schönere Muschel unter der Bedingung, dass sie sie auf jeden Falls ins Meer zurück wirft. Doch Romy versteht noch immer nicht, warum sie diesen Schatz wieder hergeben soll. "Die Dinge, die man besonders lieb hat, darf man nicht festhalten." erklärt ihr Mara. Die Muschel ebenso wenig wie Nika. Romy beginnt langsam zu verstehen und überwindet sich schließlich am Abend, die Muschel wieder ins Meer zu werfen. Zurück bleibt das intensive Gefühl, diesen Schatz in der Hand gehalten zu haben, einen Moment, den Romy so schnell nicht vergisst.
Als Romy am nächsten Tag Nika trifft, fasst sie sich ein Herz und entschuldigt sich bei ihr für ihr klettiges Verhalten. Nika ist erstaunt und erfreut und schnell gehen die beiden ein zweites Mal Drachen steigen lassen. Dieses Mal lässt Romy die Leine lang und länger werden und als der Drache sich schließlich losreißt, können beide den Anblick des scheinbar unendlich hoch steigenden Drachens vollkommen genießen.
Wer Kinder hat, kennt die vielen Schatzhaufen, die sich ganz schnell in einem Kinderzimmer ansammeln. In Truhen, Pappkoffern, Schüsseln, Bechern und Schränken werden Luftballons, Bänder und Schnüre, Zweige und Äste, Gummis, abgebrochene Eislöffel und Kaugummipapiere gehortet und nichts davon darf weg geworfen werden. Alles ist zu kostbar und zu wertvoll. Besitzergreifendes Denken ist in gewissem Maße normal und dient ein Stück weit der Definition des eigenen Raums und des eigenen Ichs. Doch sollte immer ein gesundes Maß gewahrt und Loslassen geübt werden. Was bei materiellen Dingen schnell schlicht in einem Platzproblem enden kann, resultiert bei sozialen Kontakten nicht selten in großem Kummer einer Person. Wenn eine Seite zu sehr einengt, alles bestimmen will und nicht loslassen kann, verkümmert die andere oder sagt sich los, je nach Charakter. In jedem Fall geht es einer Person schlecht.
Gut, wenn man dann auf Personen trifft, die einem die Augen öffnen und dem Verständnis auf die Sprünge helfen. Denn es ist natürlich nicht leicht zu verstehen, warum loslassen ein Gewinn sein soll, dafür braucht es Menschenkenntnis und Lebenserfahrung. Die zu teilen und weiterzugeben ist Aufgabe von Eltern und Freunden und machen einen Teil des Heranwachsens aus.
Auch wenn es etwas eigenartig erscheinen mag, dass Romy ihre Gefühle einer ihr gar nicht näher bekannten Frau, Mara, anvertraut, steckt darin doch auch eine Zuversicht in das Gute im Menschen, die diesem Buch zusätzliche Tiefe gibt. Nebenbei verleiht Tanya Stewner der Handlung dadurch etwas Geheimnisvolles und Mystisches, das sie ohne diese Wahl nicht hätte.
Geschickt und mit Leichtigkeit vermittelt die Autorin ihren Leserinnen und Lesern wichtige Botschaften, ohne dafür jedoch den erhobenen Zeigefinger in die Luft zu recken. Mit leichter und präziser Sprache erklärt sie in eigentlich recht wenigen Sätzen komplexe Themen verständlich, sensibel und angenehm unaufdringlich. Nicht nur sprachlich, auch inhaltlich wirkt die Handlung sehr authentisch, wenn z.B. Romy die erste Muschel doch behalten möchte und sie nur langsam Maras Worte versteht. Dadurch wirken die Charaktere glaubwürdig und nicht aufgesetzt.
Martina Hoffmanns großflächige Illustrationen tragen ein Weiteres zu dem Eindruck der Leichtigkeit trotz des schweren Themas bei. Sie zeichnet überzeugende, farbenfrohe Kinder, denen der Wind die Haare zerzaust und die beide unter der Situation leiden. Trotz dem sie äußerlich und charakterlich höchst unterschiedlich sind, raufen sie sich aber am Ende doch wieder zusammen.
Fazit: Es ist nicht leicht zu verstehen, dass jemand zurückkommt, wenn man ihn loslässt. Tanya Stewner gelingt es, dieses schwierige Thema leicht und einfühlsam zu erzählen und damit Mut zu machen und eine wichtige Lebensweisheit zu vermitteln.
Claudia Goldammer, Juli 2014
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