ab 11 Jahren
Wir machen eine Reise in die Vergangenheit: Wir reisen zurück in die 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts - in einen kleinen, idyllischen Ort namens Timpetill. Die Welt scheint so weit in Ordnung - wären da nicht die wilden Kinder, die "Piraten", die es mit ihren Streichen einfach zu bunt treiben. Schließlich haben die Erwachsenen endgültig die Nase voll und lassen die Kinder allein in Timpetill zurück.
Einige Kinder - besonders die Piraten mit ihrem Anführer Oskar - nehmen die Gelegenheit nur zu gerne wahr und plündern Geschäfte und verwüsten den Marktplatz. Doch aus dem einen Tag - die Eltern wollten nur früh morgens ausrücken und spätabends wieder zu Hause sein, um ihren Kindern einmal einen gehören Schrecken einzujagen - werden schließlich drei Tage. Dem klugen Manfred - den sie auch den "Geheimrat" nennen, weil er so belesen und erfindungsreich ist - und dem mutigen Thomas fällt gar nicht ein, dem wilden Treiben der Piratenbande tatenlos zuzusehen und nehmen die Herausforderung an. Und das ist einiges. Nach und nach kommen immer mehr Kinder zu ihrer Truppe, denn es mangelt an allem: Es gibt weder Wasser noch Strom, die Milch kann nicht vom Bahnhof in den Ort gebracht werden, der Nachschub an Essen gerät ins Stocken. Gut organisiert wie Thomas und Manfred sind, gelingt es ihnen, die Kinder für verschiedene Aufgabenbereiche einzuteilen. Die Mädchen kümmern sich um das leibliche Wohl, kochen, hüten die kleinen Kinder und sorgen dafür dass alles aufgeräumt und sauber bleibt - allen voran die patente Marianne. Die Jungs müssen den Ort bewachen, sie werden als Späher losgeschickt, um nach den Eltern Ausschau zu halten und überwachen das Elektrizitäts- und Wasserwerk, das Manfred wieder zum Laufen bringt. Auf keinen Fall aber wollen die Kinder Hilfe von Außen holen - sie haben da ihren Stolz und sind sich sicher, dass sie es auch allein schaffen werden bis die Eltern wieder zurückkehren.
Als dann alles auch wie geschmiert läuft und sie sogar vom Acker Kartoffeln mit der Straßenbahn herbeischaffen konnten, ausgerechnet da, entscheiden sich die Piraten zu einem Großangriff. Ein wildes Kämpfen mit Stöcken und Weidenruten beginnt. Wer wird gewinnen - die Piraten oder die Retter von Timpetill? Und werden die Eltern bald zurückkehren?
Henry Winterfeld, der mit seinen drei Romanen um den römischen Schuljungen Caius weltberühmt wurde, entstammt einer berühmten deutschen Musikerfamilie, die unter dem deutschen Nazi-Regime gerade noch rechtzeitig in das Exil fliehen konnte. Dennoch hat Henry Winterfeld, der bis zu seinem Tod als Jugendschriftsteller und Filmautor in Maine, USA arbeitete, hauptsächlich in deutscher Sprache geschrieben. Und das macht auch den Charme dieses in die Jahre gekommenen Klassikers aus; die Sprache der Kinder wirkt authentisch und zeigt den damaligen Zeitgeist.
Wo wir gerade beim Zeitgeist sind, eines vorneweg: Auch die Einschätzung von Gefahren waren damals ganz anders. Daher möchte ich noch eine inhaltliche Sache erwähnen; Manfred versucht viele Fahrzeuge zu bewegen, darunter ein Auto - was ihm nicht so gut gelingt - und die Straßenbahn - was ihm sogar sehr gut gelingt. Das wird auch von Winterfeld spannend beschrieben. Doch im Zuge der Piratenangriffe springt ein Kind heldenhaft auf das Dach der Straßenbahn - und damit ganz in die Nähe der Hochspannungsleitungen. Es ist in letzter Zeit einfach zu viel in dieser Hinsicht passiert, dass ich Eltern, die ihren Kindern dieses Buch zum Lesen geben, darauf hinweisen sollten, dass es sehr lange her ist, dass diese Geschichte geschrieben wurde und dass wir heute wissen, dass es absolut lebensgefährlich ist, wenn man sich auch nur in die Nähe dieser Hochspannungsleitungen begibt.
Eigentlich hatte Henry Winterfeld diese Geschichte für seinen Sohn Manfred erdacht - er hat ihn hier zu einem unangefochtenen Helden gemacht, auch wenn wir so manches Mal von seiner Unsicherheit und seinem Ärger erfahren, wenn etwas nicht so läuft, wie er es möchte. Aber auch die anderen Charaktere würde man heute als "tough" bezeichnen. Sie sind klug, packen an, wenn "Not am Mann" ist und sind nicht gerade nachsichtig mit Mitstreitern, die sich vor der Arbeit zu drücken versuchen. Aus diesem Verhalten und den entsprechenden Dialogen können wir schön den damaligen Zeitgeist erkennen, und auch das Erziehungsmodell, das damals vorherrschte; es war eher autoritär , obwohl Winterfeld sehr wohl durchblicken lässt, dass Schläge gar nichts bringen - am Beispiel von Oskar nämlich genau das Gegenteil.
Ist dieses Buch Geschmackssache?
Natürlich schon - so ist es ja mit jedem Buch. Aber für die Kinder schaue ich da immer von allen Seiten darauf. Und würde sagen, dass es bestimmt einige Kinder gibt, die sich fasziniert in diese Zeit und in diese Situation ohne Eltern - ja, ohne jeden Erwachsenen - fallen lassen werden. Sie werden überlegen, wie sie den einen oder anderen Problemfall lösen würden und würden sich fragen, zu welcher Gruppe von Kindern sie wohl gehören würden. Zu den "Rettern" oder zu den "Piraten"? Henry Winterfeld zeigt hier beide Möglichkeiten auf und noch eine dritte: Die Einsicht, dass der Spaß sehr schnell endet, wenn man hungrig und im Stockfinsteren ganz allein im Bett liegt.
Generell ist die Idee, mit der er damals seinen kranken Sohn Manfred unterhalten hat, ein spannendes Gedankenexperiment; Eine tolle Herausforderung für jedes Kind. Die Kinder von Timpetill müssen von heute auf morgen ganz allein klarkommen. Gut, dass es die klugen und mutigen Leitfiguren Thomas und Manfred gibt, die sich der schwierigen Aufgabe annehmen. Spannend erzählt Winterfeld, wie die Kinder selbst bei scheinbar unlösbaren Problemen doch immer eine Lösung finden. Da bleibt man gerne am Ball - vor allem weil es von einer längst vergangen Zeit und ihrer Technik erzählt, so lebendig, dass man sich ganz in diese Zeit versetzt fühlt. Was heute aber vielen merkwürdig anmuten wird - so ist es zumindest mir gegangen - ist der Umgangston und die autoritäre Grundhaltung. Da gibt es den Präsidenten Thomas, der seine Schar - also sein Volk - in verschiedene Dienstgrade einteilt. Da gibt es einen militärischen Unterton in der Kommunikation, der mir persönlich nicht gefallen hat und ich habe mich gefragt, wie so ein abenteuerliches Experiment wohl heute aussehen würde. Sicherlich, gerade Jungs - und für die ist dieses Buch auch heute noch eine spannende Lektüre - finden es spannend, wenn Hierarchien aufgebaut werden, wenn sich die Helden an die Spitze kämpfen und für ihr Volk einstehen. Zahlreiche Computer bzw. Spielkonsolen-Spiele zeugen von dieser Faszination im Kampf gegen Gut und Böse.
Zunächst wirken das ganze Chaos und die Cleverness, mit der die Kinder sich immer wieder aus schwierigen Lagen retten und diszipliniert auf Ordnung und Struktur beharren, noch ganz idyllisch. Wichtig zu erwähnen wäre auch, dass Henry Winterfeld durchaus humorvoll schreibt und seine Helden in so manch grotesker Situation agieren lässt, dass es einem schon das eine oder andere Schmunzeln entlockt. Warum Winterfeld aber dann den Tenor der Geschichte ganz wechselt und zu einem ganz und gar organisatorisch-politischem Modellfall werden lässt, ist mir schleierhaft. Vielleicht hat ihn das Organisatorische - ob es wirklich funktionieren könnte - so sehr beschäftigt, dass er diesen Gedanken einfach zu Ende denken musste.
Und damit meine ich den Teil, in der es die große Versammlung im Rathaus gibt und die erste Zeit der Umsetzung, das wie der real gelebte Sozialismus auf mich wirkt. Natürlich müssen gewisse Zuständigkeitsbereiche festgelegt werden. Doch dies geschieht ganz von oben herab und Widerspruch wird nicht geduldet. Mit strikter Rangordnung unter den Kindern mit Betriebs- und Notstandsverordnung, Adjutanten und Kommandanten, Wachposten eingeteilt in zwei Arbeitsschichten, weckte es in mir irgendwie - wie alle starren Systeme die keinen Widerspruch dulden - ein ungutes Gefühl.
Auch das Frauenbild der damaligen Zeit wirkt für uns schon ziemlich eigenartig. Zum Glück entspricht es nicht mehr dem heutigen: Da sind Mädchen (die auch dazu noch "Pussi" heißen) eben für "Frauenarbeiten" zuständig - und finden das auch toll, wollen sie sich in ihren Kochkünsten noch übertreffen - und die Jungs müssen natürlich die technisch anspruchsvollen Bereiche bzw. die Verteidigung und die Ordnung innerhalb des reinen Kinderstaates übernehmen.
So bleibt mein Eindruck von dem Buch zwiegespalten. Der Verlag hat das Buch ab 12 Jahren empfohlen; ich aber finde, dass es Jungs und Mädchen ab 11 Jahren keine Probleme bereiten wird. Denn Manfred - der uns diese Geschichte aus seiner Perspektive erzählt - lässt uns an jedem kleinen Detail teilhaben, erklärt Zusammenhänge und technische Herausforderungen, denen er sich stellen muss. Auch sprachlich dürfte das Buch für die Altersgruppe ab 11 keine Probleme darstellen, zwar gibt es ein paar umgangssprachige Floskeln aus der damaligen Zeit, diese kann man aber sehr gut herleiten, bzw. versteht sie auch auf Anhieb. Der Befehlston allerdings - das sich Aufspielen, Funktionieren und Ducken - das könnte einige abschrecken, manch andere aber wiederum am Ball bleiben lassen.
Auf der Endgeraden erreicht Henry Winterfeld aber wieder sein altes Tempo und lässt eine Gewissensfrage aufkommen, die Kinder auch heute noch beschäftigen wird: Was ist Gerechtigkeit und was wäre die schlimmste Strafe für einen, der die Gemeinschaft sabotiert und ihr damit schadet?
Genau das führt uns Henry Winterfeld hier vor Augen: Er erzählt nicht nur eine abenteuerliche Geschichte, er gibt auch ein herrliches Zeitdokument ab und ein Beispiel zeitloser Menschlichkeit, in einer Vergangenheit, als die Uhren noch langsamer gingen und - man mag es heute kaum noch glauben - die Computer noch gar nicht erfunden wurden.
Fazit:
Ein Leseabenteuer der besonderen Art ist Henry Winterfelds "Timpetill - Die Stadt ohne Eltern": Es ist wie eine Zeitreise in die Vergangenheit und schildert eine außergewöhnlich Situation auf sehr lebendige Weise. Nicht alle Kinder werden Zugang finden in diese Zeit und seine Gesetzesmäßigkeiten. Andere aber werden sich mit Begeisterung mit Henry Winterfelds Gedankenexperiment beschäftigen und neugierig bleiben, wie die Kinder von Timpetill ihr Leben ohne irgendeinen Erwachsenen meistern.
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