Die einen sind brav, die anderen sind frech und unartig! So einfach ist das. Wirklich? Die Geschichten, die der Bestsellerautor Klaus-Peter Wolf um den Grundschüler Jens-Peter baut, erzählen etwas anderes. Jens-Peter ist eigentlich ganz lieb und möchte seinen Eltern keine Sorgen machen, aber wie ein Schatten folgt ihm der Unsichtbare. Er setzt ihm Flausen in den Kopf und treibt ihn zum Schabernack an. Mit allen Mitteln der Überredungskunst und unter Rückgriff auf allzu bekannte Floskeln der Eltern bringt der Unsichtbare Jens-Peter dazu, den größten Quatsch zu machen und bugsiert ihn in die peinlichsten Situationen.
Der Unsichtbare ist nicht der typische "unsichtbare Freund", den sich Kinder in einer bestimmten Phase zum Gefährten wählen mögen. Nein, eigentlich ist es gar kein richtiger "Freund", sondern eine geschwätzige Nervensäge, die Jens-Peter von einer unmöglichen Situation in die nächste bringt.
Das erste Mal taucht er kurz vorm Essen auf und stiftet Jens-Peter dazu an, einen Schokoladen-Osterhasen bis auf den Pürzel leer zu futtern. Dann erschreckt er ihn im Schulunterricht und provoziert den Ausruf "Knallkopf", von dem sich natürlich - den "Unsichtbaren" sieht ja niemand - der Lehrer angesprochen fühlt.
Im Zoo bringt der Unsichtbare Jens-Peter dazu, sich ins Elefantengehege zu lehnen und Federn von den Flamingos zu sammeln - als Dankeschön für seine liebe- und verständnisvollen Eltern, die selbst bei der größten Wandmalfarben-Sauerei im Flur weitestgehend die Nerven behalten.
Richtig peinlich wird es als Jens-Peter sich in seine Klassenkameradin Julia verliebt. Natürlich hat auch hier wieder der Unsichtbare seine Hand im Spiel: im Chor singt er aus Absicht schief als alle still sind; beim Fußball feuert er Jens-Peter zum Eigentor an; und zu allem Übel ermuntert er ihn am Arbeitsplatz seiner Mutter ein Computerspiel zu starten, das später für einen Virus gehalten wird und die ganze Firma in Panik versetzt.
Am Ende kann aber nicht nur die Mutter ihren Arbeitsplatz als Putzfrau behalten, sondern Jens-Peter bekommt auch noch vom Chef persönlich einen Computer geschenkt. So nimmt die Geschichte schließlich - und das gehört zur Dramaturgie der witzigen Anekdoten über Jens-Peters Pleiten, Pech und Pannen - eine positive Wendung oder die Katastrophe bleibt zumindest aus.
"Der Unsichtbare - Willkommen im Chaos" besteht aus einer Reihung von Geschichten, die nach einer knappen Situationsbeschreibung in erster Linie aus unkommentierten Dialogen zwischen Jens-Peter und dem Unsichtbaren bestehen. Wer jeweils spricht ist lediglich durch die unterschiedliche Färbung des Textes markiert, wird aber in der Regel nicht explizit benannt. Dies verleiht dem Band einen ganz besonderen Reiz, stellt aber auch eine Verständnishürde für jüngere Zuhörer dar. Durch diese Technik und die Vermeidung der Deutung von Figurenrede bekommt der Text aber auch ein besonders flottes und mitreißendes Tempo. Der Aufbau der komischen und auf eine Pointe zulaufenden Geschichten erinnert dabei mitunter an Comedy-Sketche.
Der Band, bzw. die neu aufgelegte Reihe (zuerst erschienen unter Titeln beginnend mit "Jens Peter und der Unsichtbare..." in den 1990ern bei Gerstenberg), ist jedoch wesentlich tiefgründiger als auf schnelles Gelächter ausgelegte seichte Unterhaltung. Wie sollte auch ein Spezialist für Kriminalfälle keinen doppelten Boden legen: es wird zwar jeder Bauchmuskel einzeln affiziert, aber gleichzeitig gibt es auch Futter fürs Hirn.
Es liegt nahe, dass Jens-Peter und der Unsichtbare zwei Gesichter eines Jungen sind und dass die Aushandlungen zwischen den beiden letztlich innere Kämpfe spiegeln. Man könnte also auf Spurensuche gehen und die Geschichten als Auseinandersetzungen mit der kindlichen Psyche und Identität lesen. Jeder Versuch solch eine Lesart konsequent durchzuexerzieren dürfte allerdings scheitern, denn gerade der verspielte und teils assoziative Umgang mit verschiedenen Motiven ist es, der die Lektüre zur Freude werden lässt.
Unterhaltsam ist auch das Arsenal an Überredungs- und Beeinflussungstechniken, auf welches der Unsichtbare zurückgreift. Man könnte "Der Unsichtbare. Willkommen im Chaos" schon fast als "Kursbuch zur Anstiftung" bezeichnen. Der Unsichtbare manipuliert Jens-Peter durch Einflüsterung und Suggestion, fordert ihn durch persönliche Beleidigungen und Ehrverletzungen heraus, droht ihm offen, appelliert an seine guten Vorsätze und moralischen Werte, schüchtert ihn mit der Sprache von Autoritäten ein, spielt seine Bedenken herunter, konstruiert quasi-logische Rechtfertigungen und verspricht ihm auch einfach mal das Blaue vom Himmel.
Die farbenfrohen Illustrationen von Stephan Baumann geben den Geschichten einen frischen und im Vergleich zu den Erstpublikationen aus den 90ern wesentlich frecheren und moderneren Charme. Die Bilder zeigen die beiden Jungs in Interaktion - wobei der Unsichtbare ab der Körpermitte zunehmend transparent gezeichnet ist. Mimik und Gestik der Jungen sind dabei deutlich akzentuiert, obgleich die Flächigkeit der Bilder das Minenspiel gleichzeitig einschränkt. Interessant - aber sicher nicht jedermanns Sache - ist die Mischung aus einer an Computer-Animation erinnernden Darstellung mit kreativ ungenauem Freihand-Stil und Graffiti-Elementen.
Wer den Deckel mit niedergeschlagenen Blick zuklappt, braucht nicht lange auf bessere Laune und neue Stories zu warten: in wenigen Wochen (März 2014) wird nicht nur der zweite Band "Der Unsichtbare. Freche Freunde" sondern es werden auch die Hörbuchversionen beider Bücher erscheinen. Und wer sich der Lesefreude voll und ganz hingeben möchte, wird den Unsichtbaren und Jens-Peter in den nächsten Monaten sicher wieder quer durch die Zeit, mitten in eine Torte und dann direkt zum Psychologen begleiten dürfen.
Fazit:
Kriminologisches Gespür und ostfriesischer Humor sind genau das richtige Rüstzeug zur Erkundung der Psyche eines Grundschülers! Ein hohes Maß an Unterhaltung und gnadenlosem Blödsinn trifft auf einen vorzüglichen Sprachwitz und eine gedankenreiche Dramaturgie.
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