Wie oft halten wir etwas für wichtig und übersehen darüber etwas anderes! Dreht sich die Welt denn nur um den Menschen? In "Jona und der Wal" wird die Perspektive von innen nach außen gekehrt: wie fühlt sich eigentlich der Wal mit vollem Magen? Hier wird nicht Jona, sondern das riesige Tier auf die Probe gestellt. Der Wal beginnt zu zweifeln, sucht nach Gottes Stimme und übt sich in Demut und Geduld. Sein Gesang bringt ihm und dem Mann, der wie ein Embryo in seinem Bauch liegt, ein tiefes Gefühl von Geborgenheit und inneren Frieden. Für den Rest ihres Lebens fühlen sich Jona und der Pottwal verbunden und vergessen nie, was sie erfahren und lernen durften.
Die alttestamentarische Geschichte um Jona und den Wal ist weltbekannt und gehört zu jenen Geschichten, die besonders gerne für Kinder aufbereitet werden. Die Zahl der Bilderbuch-Fassungen ist beachtlich und regelmäßig werden Neufassungen veröffentlicht; dabei erscheint der Wal mal furchterregend und gefährlich, mal friedfertig und hilfsbereit. Im Mittelpunkt aber steht immer: Jona, der vor seinem göttlichen Auftrag zu fliehen versucht, sich ins Meer werfen lässt und von einem Wal verschluckt wird. Während der Gefangenschaft im Bauch des Wals findet Jona seinen inneren Frieden, aber auch seine Liebe und Ehrfurcht vor Gott wieder. Überraschend ist nun, dass es in "Jona und der Wal" um all dies und auch um die Prüfungen, die Jona noch bevorstehen, gar nicht geht. Die Kernbotschaften der Bibelgeschichte werden zwar vermittelt, aber anhand einer anderen Erzählung, jener nämlich des Tieres und nicht des Menschen.
Illustriert mit wunderschönen von Licht lebendig umspielten Meeres- und Landschaftsbildern beginnt das Kinderbuch mit einer Schaffensgeschichte. Gott schuf den Wal und gab ihm eine Familie. Es wird ein Idyll gezeichnet, eine lächelnde Wal-Kleinfamilie, die durch das Meer schwimmt und voller Lebenskraft und Freude in die Luft springend Fontänen von glitzerndem Wasser versprüht. Sprudelndes Leben, erhabene Naturerfahrung, familiäres Glück, Grenzenlosigkeit, Ruhe und Frieden! Gott spricht zum Wal und befiehlt ihm den Mann zu retten, der beim Unwetter von Bord geht. Der Wal verschluckt Jona und wartet drei Tage vergebens auf weitere Anweisungen. Geplagt von Übelkeit befürchtet er sich übergeben zu müssen. Sein gottgegebener Gesang hilft dem Wal sich - und auch Jona, der ebenfalls Angst haben dürfte - zu beruhigen. Trotz des schweren Magens fühlt sich der Wal durch die wohltuenden Klänge leicht und kann voller Ruhe und Sicherheit geduldig warten. Dann - endlich - erklingt Gottes Stimme und der Wal ist überglücklich seinen Passagier wieder an Land spucken zu dürfen. Noch nach Jahren fühlen sich Mensch und Tier verbunden. Der Gesang des Wals ist für immer mit Liebe, Ruhe und Geborgenheit assoziiert und wird mit der erhabenen Erfahrung der Natur und Gottes verbunden.
Der Text zeichnet sich durch die Dominanz der Erzählung, eine klare aber dennoch sehr poetische Sprache und eine einfache Syntax aus. In vielen Momenten mag man sich an den Sprachstil und auch konkrete Passagen der Bibel erinnert fühlen, in anderen jedoch (etwa wenn der Wal rülpsen muss, oder dem Erbrechen nahe ist) wird der biblische Ton deutlich gebrochen. Leider verliert der Text etwas durch die -dennoch sehr gut gelungene - Übersetzung ins Deutsche. So zeichnet sich etwa der Perspektivwechsel im englischen Original auch sprachlich ab, indem Jona nicht beim Namen, sondern "the man" genannt wird. Auch wenn das Cover (und nur das Cover!) der Erstauflage abweicht und einen im Vergleich zu den äußerst sanften und friedvollen Bildern, überraschend bedrohlichen Wal zeigt, lohnt es sich für zweisprachige Familien die englische Fassung zu kaufen.
Ob in Deutsch oder Englisch ist "Jona und der Wal" absolut empfehlenswert. Die liebevolle Darstellung des Wals und auch das Bild von Jona als von Strahlen umgebener Embryo vermitteln Liebe, Geborgenheit und Ruhe. Die erschreckende Seite der Geschichte und die Bedrohlichkeit des Erhabenen treten in den Hintergrund. Die Fassung eignet sich deshalb besonders gut für kleine Leser ab 4 Jahren. Der Fokus auf den niedlich lächelnden Wal ist dabei besonders reizvoll, wobei der Wechsel der Perspektive gleichzeitig auch inhaltlich gut motiviert ist. Der Band verweigert sich der Tendenz den Menschen in den Mittelpunkt der Welt zu rücken und ist so letztlich auch nah am Thema der biblischen Geschichte, in der es um die Erfahrung des Erhabenen geht.
Fazit:
Eine liebevolle Erzählung der Bibelgeschichte um Jona aus der Perspektive des Wals. Eine zauberhaft-sanfte Bildsprache trifft auf eine glasklar-poetische Sprache!
Deine Meinung zu »Jona und der Wal«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!