Das literarische Kaleidoskop
- Fischer Schatzinsel
- Erschienen: Oktober 2013
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Die Illustratorin Regina Kehn, die bereits viele Kinderbücher und deren Cover bebildert hat, hat für dieses Projekt kurze Texte und Gedichte 15 berühmter, deutschsprachiger Autorinnen und Autoren ausgewählt und sie sozusagen ausgemalt: Strophe für Strophe, Satz für Satz Bilder dazu gezeichnet. Graphic Poetry nennt sich das dann.
Eine preisgekrönte Illustratorin bebildert Texte weltberühmter deutscher Dichter, der Verlag stattet es hochwertig aus, mit Lesebändchen, lässt es in seiner besonders anmutenden Reihe ›Die Bücher mit dem blauen Band‹ erscheinen - und vielleicht ist es durchaus das geworden, als das der Klappentext es beschreibt: ein "Unikat", ein "kraftvoller, zärtlicher Zugriff auf wohlbekannte und verborgene Perlen der Literatur", ein "neuer Blick auf die Bildhaftigkeit von Sprache". Das mag alles stimmen. (Auch wenn normale Menschen vielleicht erst mal überlegen müssen, was genau damit gemeint sein könnte.) Aber der nächste Satz, nämlich dass es ein Schatzkästchen ist für "Literaturliebhaber jeden Alters", der stimmt nicht.
Das Buch mag belesenen Erwachsenen gefallen, die seinen Titel "Literarisches Kaleidoskop" ohne Zungenbruch aussprechen und sich darunter etwas vorstellen können.
Für Kinder ist das "Literarische Kaleidoskop" eher nichts. Sie legen es bald wieder an die Seite, was möglicherweise auch daran liegt, dass das Buch unangenehm stechend nach Druckfarbe riecht und sie einfach keine Lust haben, ihre Nase allzu tief hinein zu stecken.
Wer die Luft anhält und es trotzdem tut, bekommt 17 kleine Texte präsentiert, von Krüss bis Kafka, von Grimm bis Storm, zu denen Regina Kehn Zeile für Zeile Bilder gezeichnet, gemalt, schraffiert hat; dann die Wörter handschriftlich oder mit Druckbuchstaben in die Bilder hineingeschrieben, mit Wasserfarben, Fasermaler, Kreide, Füller.
Tolle Texte; gekonnte, ausdrucksstarke Zeichnungen, Aber: alles ist sooo düster hier.
Sepia, Schwarz, Anthrazit sind die vorherrschenden Farben; es gibt seitenweise Hafenstadt-Landschaften und Strandlandschaften und gar keine Landschaften, alles in in grau, grau, grau, kein Mensch, kein Tier, kein Leben.
Die Gedichte handeln von armen Kindern, unglücklich verliebten Menschen, gejagten, dumpfen Tieren mit zottigen Rümpfen, armen Kräutchen, die in kohlrabenschwarzer Umgebung am Bahndamm wachsen und Seite für Seite immer wieder vom Zug platt gefahren werden; sogar der Text von James Krüss, dem Generationen von Kindern sprachverspielte Gestalten wie Henriette Bimmelbahn oder schnapstrinkende Möpse verdanken, ist traurig und trist.
Okay, wer durchhält, trifft es noch, das Leben: in der als blau-rot-bunter Comic gezeichneten Geschichte von Fuchs und Hase, bei der lächelnden Sternkarte, in Gestalt einer helle Farben singenden Drossel. Aber da sitzt der Vorleser schon längst allein auf dem Sofa.
Nun vertragen Kinder durchaus mehr als Friede-Freude-Eierkuchen und heiter-harmlose Kinderserien. Sie können, wollen und sollen das wahre Leben auch in Büchern treffen und nicht nur heile Welt. Aber genauso wenig wie alles, was ein Happy End hat, trivialer Schund ist, ist alles, was düster und daseinsschwer ist, automatisch Kunst. Es muss auch berühren, mitnehmen, funktionieren.
Warum es das hier nicht tut, liegt vielleicht auch daran, dass gute Gedichte so gut sind, dass sie vor unserem inneren Auge die Bilder von ganz allein entstehen lassen.
Und dann ist es vielleicht auch so, dass ein normales Kindergarten- oder Schulkind, den Seufzer auf dem Eise, der vor Liebe erglüht und deshalb durch die Eisdecke hindurchschmilzt, vor seinem inneren Auge als ein fröhliches Wesen sieht, das auf dem Grund des Sees angekommen mit einer netten Nixe glückliche Tage verbringt. Oder etwas anderes, aber wahrscheinlich nicht den Gevatter Tod persönlich, der in dunstig-düstere Nacht seitenlang seine Schleifen dreht und schließlich haltlos auf den Grund des Sees strudelt und rettungslos verloren ist, der hier im Buch zu sehen ist.
Alle Texte sind in einem Anhang im Original noch einmal zusammengefasst und in einem weiteren Anhang gibt es von jedem Autor und jeder Autorin ein kleines Porträt in Wort und Bild, natürlich gezeichnet von Regina Kehn, exzellent getroffen - und natürlich in schwarz.
Fazit:
Verschiedene Gedichte sind hier handschriftlich geschrieben und auf mehreren Seiten illustriert; traurige Gedichte, zumindest keine heiteren. Und als wollte das Buch ein Begleiter für unglücklich Verliebte sein oder ein literarischer Einstieg in die Herbstdepression, sind die Bilder auch noch mal extra düster interpretiert.
Regina Kehn, Fischer Schatzinsel
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