Die fliegenden Bücher des Mister Morris Lessmore

  • Boje
  • Erschienen: Juli 2013
  • 0
Die fliegenden Bücher des Mister Morris Lessmore
Die fliegenden Bücher des Mister Morris Lessmore
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Kinderbuch Couch
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Kinderbuch-Couch Rezension vonJul 2013

Idee

Eine märchenhafte Geschichte von einem Mann, der in und mit seinen Büchern lebt. Ein Buch über die Liebe zu Büchern, die zum Leben erwacht als Figuren die Seiten bevölkern.

Bilder

Plastisch wirkende Einzelbilder aus dem Animationsfilm werden geschickt mit als Zeichnungen ausgestellten Illustrationen verbunden. Im Retro-Stil wird die Materialität alter Bücher imitiert.

Text

Der Text ist rund, leicht verständlich und liest sich wie ein Märchen. Punktuell fügt der Sprachwitz den Bildern etwas hinzu, meist könnten diese aber gut – wie im Film – für sich sprechen.

Wer will schon ein langweiliger Bücherwurm sein? Moment, langweilig? "Die fliegenden Bücher des Mister Morris Lessmore" zeigt wie wundervoll, spannend und vielfältig das Leben in einer Bibliothek sein kann. Die Geschichten schwirren hier durch den Raum, die Bücher flattern aufgeregt durcheinander und am Ende sind sie es, die den alt gewordenen Morris Lessmore wieder in einen jungen Mann verwandeln. Das Buch basiert auf dem Oscar-prämierten Kurzfilm von William Joyce und Brandon Oldenburg aus dem Jahre 2011. Eine verzaubernde Liebeserklärung an die Einzigartigkeit, Materialität und Lebendigkeit von Büchern, die gerade durch die Realisierung in verschiedenen Medien (als Film, i-Pad App, und Bilderbuch) an Tiefe und Vielschichtigkeit gewinnt.

Mister Morris Lessmore - ein an Buster Keaton erinnernder Mann mittleren Alters mit Strohhut, braunem Anzug und einem gebogenen Gehstock - sitzt von Bücherstapeln umgeben auf dem Balkon und schreibt in sein (Tage-)Buch. Plötzlich wird er von einer Naturkatastrophe (Hurrican Katrina) überrascht: ein Windsturm wirbelt alles durcheinander und hinterlässt eine graue Landschaft der Zerstörung. Auch die Worte in seinem Buch sind vom Wind weggetragen worden. Mister Morris Lessmore befindet sich an einem Nullpunkt in seinem Leben. Ohne Heim, ohne Hab und Gut und ohne Geschichte macht er sich auf den Weg und lernt, dass weniger ("less") mehr ("more") sein kann.

Orientierungslos und ohne Ziel schaut er in den Himmel und erblickt eine junge Frau, die von einer Schar flatternder Bücher durch die Luft getragen wird. Die Farbenpracht des Himmels bildet einen Kontrast zu den schwarz-weißen Katastrophenbildern. Auf dem Arm der Frau, die an Mary Poppins erinnert, steht ein aufgeschlagenes Buch aus welchem dem Leser Humpty Dumpty entgegenblickt. Das Buch flattert zu Morris herab und führt ihn zu einer Bibliothek, die voller fliegender Bücher ist. Dort verbringt er - als Bibliothekar - sein Leben: er versucht - ohne Erfolg - die Bücher zu ordnen, er verleiht diese und bringt damit Farbe in den grauen Alltag der Menschen, er klebt lose Seiten ein, hält alte Werke am Leben, indem er sie liest, und kümmert sich um seine neuen Freunde wie um Kinder. Am Abend, bevor er sich in einem riesigen Buch zu Bett legt, schreibt er über sein Leben und "über das Glück, wenn es ihm begegnete".

Die Jahre vergehen und Morris Lessmore wird zu einem alten Mann. Als er sein Buch zu Ende geschrieben hat, kommt die Zeit zu gehen. Seine Bücher verwandeln ihn wieder in einen jungen Mann bevor er - wie die fliegende Frau zu Beginn des Buches - in den Himmel aufsteigt: seine Seele ist es, die durch die Geschichten jung geblieben nun ihre Flügel aufspannt und "durch die stillen Lande" zieht - wie es bei Eichendorff heißt. Sein Buch aber lässt Morris zurück und als ein kleines Mädchen die Bibliothek betritt und in ihm zu lesen beginnt, ist eine neue Hüterin der Bibliothek gefunden und der Kreislauf setzt sich fort: denn so "endet unsere Geschichte wie sie begonnen hat: mit dem Öffnen eines Buches".

"Die fliegenden Bücher des Mister Morris Lessmore" ist dabei aber kein Ausdruck einer verklärten und traditionalistischen Liebhaberei für ein aus der Mode gekommenes Medium. Es geht nicht darum Bücher - im Gegensatz zu den neuen Medien - als wertvolles und Werte vermittelndes Bildungsgut zu behaupten. Interessanter Weise nimmt die Geschichte des Buches ja ihren Anfang in einem Kurzfilm, der auf zahlreichen Festivals ausgestrahlt und mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde. Der online frei zugängliche Film (http://vimeo.com/52401872) verzichtet gänzlich auf das gesprochene Wort und erzählt die Geschichte durch 3-D Animation und 2-D Techniken verbindende Bilder, die den Zuschauer von klassischer Musik begleitet verzaubern.

Die tragende Kraft der Bilder zeichnet auch die Buch-Version aus, in der Einzelbilder aus dem Film mit gezeichneten Illustrationen verbunden werden. Das Buch ist aber - obwohl der Text teils illustrativ wirkt - kein "Abklatsch" vom Film. Es werden vielmehr die Möglichkeiten und die Spezifik der Sprachen beider Medien erkundet: beispielsweise durch die Montage mehrerer Filmbilder zur Erzeugung eines Bewegungseindrucks auf einer Buchseite. "Die fliegenden Bücher des Mister Morris Lessmore" ist eine Liebeserklärung an die Fantasie, die Literatur und die Welt der Geschichten, die sich auf spielerische Weise mit den Regeln und Möglichkeiten der Darstellung, mit der Geschichte und mit der Materialität verschiedener Medien auseinandersetzt.

Buch und Film stecken voller Bezüge zu Klassikern und Protagonisten der Literatur- und Filmgeschichte (Der Zauberer von Oz, Alice im Wunderland aber auch Charly Chaplin oder Buster Keaton). Ebenso wie die Materialität der alten, zerfledderten und teils noch handgeschriebenen Bücher - deren Imitation in der Buchversion leider nur mäßig gelingt und die Aura der Einzigartigkeit einbüßt - hervorgehoben wird, spielt auch die Besonderheit und Geschichte des Films eine tragende Rolle: z.B. durch die Animation Humpty Dumptys als Daumenkino, das Spiel mit Schwarz-Weiß und Farbfilm, sowie weitere Bezüge zum frühen Kino. Das interaktive iPad-App, welches zu einem wahren Verkaufsschlager wurde, verbindet gewissermaßen Film und Buch und ergänzt diese durch integrierte Spiele: man kann Morris Lessmore beim reparieren der Bücher helfen, ihn durch seine Bücher fliegen lassen, Klavier spielen, schreiben, malen und - natürlich zu einem knisternden Sound - die digitalen Buchseiten umblättern. Das App führt vor Augen was Bücher im digitalen Zeitalter sein könnten, welche Möglichkeiten sich jenseits der einfachen Digitalisierung für E-Reader bieten und wie sich die Art des Erzählens dabei wandeln könnte.

"Die fliegenden Bücher des Mister Morris Lessmore" ist nicht nur Ausdruck einer nostalgischen Verehrung des gedruckten Wortes, sondern auch eine gewitzte Auseinandersetzung mit der Zukunft von Literatur und Fiktion, sowie eine gekonnte Konfrontation der Darstellungsmöglichkeiten und je spezifischen Sprachen verschiedener Medien. Durch den hohen Niedlichkeitswert der wuselig-herumflatternden Buchfiguren und die liebevoll-freundliche Mimik von Morris Lessmore ist das Buch für Kinder ab vier Jahren gut geeignet und kann einen Keim für die Liebe zu Büchern sähen. Aber auch für Bibliophile bis ins hohe Lebensalter ist es eine lohnenswerte Lektüre und gleichzeitig ein versöhnlicher Ausblick auf die mögliche Koexistenz verschiedener medialer Ausdrucksformen, die sich eben nicht ausschließen, sondern gar gegenseitig ergänzen können ohne dabei ihre Einzigartigkeit und Spezifik zu verlieren. Wer dem Verschwinden von gedruckten Büchern zuredet, übersieht deren wertvolle Besonderheit. Wer neue Medien und digitale Bücher verteufelt, ignoriert deren Potential für die Entwicklung neuer Arten des Erzählens und die Eröffnung neuer Räume der Fiktion.

Fazit:

Eine wunderschöne - wenn auch teils etwas kitschig-nostalgische - Hommage an die Literatur und die Welt der Bücher. Als Gesamtprojekt ein wahres Meisterwerk!

Anneka Esch-van Kan

 

Die fliegenden Bücher des Mister Morris Lessmore

William Joyce, Boje

Die fliegenden Bücher des Mister Morris Lessmore

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