Ein Roman in Tagebuchform ist meistens gut, so wie dieser hier.
Erstens wird er mit wenig Aufwand authentisch. Einige teenie-typische Ausdrücke wie "Echt mal!" oder "Juhuuuuuuuuuuuuuuuu!" reichen, dazu ab und zu handschriftlich anmutende Schrifttypen und selbstgekritzelt aussehende Illustrationen. Wichtig dabei ist die Dosierung. Es darf nur so wirken wie ein echtes, normales Teenie-Tagebuch - und nicht wirklich so sein: redundant und laberig nämlich in den meisten Fällen. Und das funktioniert hier prima.
Zweitens lässt sich mit wenig Aufwand für Abwechslung sorgen: die tagebuchtypische Mischung aus geschilderten Erlebnissen, wiedergegebenen Dialogen, Rang- und To-Do-Listen und Selbstgesprächen, eingestreuten Gedichten, Promi-Steckbriefen und Psychotests aus einer Mädchenzeitschrift macht es fast von allein. Noch abwechslungsreicher wird es dadurch, dass Amélies Buch sich nicht streng ans Genre hält. Und nicht nur jeden Monat in Tage, sondern einen Tag auch in Stunden und manche Stunde sogar in Minuten einteilt. Was ihm stellenweise eher den Charakter eines Logbuchs oder Live-Tickers gibt.
Drittens braucht es keinen dramaturgischen Aufwand, um dem Leser zu ermöglichen, sich Vorgeschichte und Personal aus dem Zusammenhang zu erschließen. Was wichtig ist, wird einfach erklärt. Nämlich so: Liebes Tagebuch, ich erkläre dir, warum ich auf einen Mädchenschule gehe. Wer William ist und warum ich ihn doch nicht geküsst habe, damals, mit 11. Und ich erkläre dir, wo mein Vater ist und warum ich mit meiner Mutter nicht über ihn reden kann - weil die dann einen roten Hals bekommt und heulen muss. Und dann: Rückblende, 21. Januar, fünf Jahre davor, der Tag, als Amélies Vater völlig überraschend an einer Lungenembolie gestorben ist.
India Desjardins, die Autorin, geht darüber zwar nicht oberflächlich hinweg, thematisiert es aber auch nicht übermäßig. Ein Glück. Würde die Geschichte doch sonst schwer, problembeladen und pädagogisch werden. Der tote Vater gehört zu Amélie. Punkt. So wie der ewige Aufräumstreit mit ihrer Mutter oder ihr Süßigkeitenfaible. Und bietet sogar den Ausgangspunkt für humorvolle Passagen: Amelie schreibt nämlich oft darüber, dass sie sich denkt, ihr Vater sei ein Außerirdischer und auf seinen Heimatplaneten zurückgekehrt. Sie erklärt sich so viele Dinge: warum aus ihrem Mund immer außergewöhnlich freche Sachen kommen, wegen der sie regelmäßig sie zum Schuldirektor einbestellt wird; warum ein astronomischer Monsterpickel auf ihrer Nase wächst; warum sie nur noch stammeln kann, wenn sie diesen einen bestimmten Jungen trifft, der aussieht wie ein berühmter Skater und Nicholas heißt. Ganz einfach: sie ist auch eine Außerirdische und ihre Verwandlung hat begonnen.
Worüber Amelie sonst noch schreibt? Neben Schule, Jungs, Pickel, auch über ihre zweimal täglich aufkommende Panik "aufgrund der Frage: Wird der Schulbus wirklich kommen?", über ihre Freundin Kat, mit der sie mörderische Maoam-Mengen vertilgen kann, der sie alles erzählt und von der sie aktuell manchmal genervt ist. Weil sie frisch verliebt ist, "gehirnerweicht" und nur noch von und mit ihrem Freund redet, den sie zärtlich Jean-Lucidumischu Hamuminu nennt. Sie schreibt über das Gefühl, wie man sich Menschen gegenüber verhält, die man nicht wirklich kennt, aber jeden Tag sieht, weil sie den gleichen Bus nehmen. "Wir tauschen ein Lächeln aus. Das besagt soviel wie: wir reden in der Schule zwar nicht miteinander, aber wir teilen das gleiche Schicksal, auf diesen Bus zu warten. Dann wenden wir den Blick wieder ab, um sicherzugehen, das wir uns nicht anfreunden müssen." Oder wie es sie irritiert, dass ihre Oma immer Backpulfer sagt - statt Backpulver.
Indra Desjardins schrieb lange für ein kanadisches Jugendmagazin und scheint die Welt, die Gedanken und Gefühle ihrer Leserinnen zu kennen.
Ist das alles nicht ein bisschen oberflächlich? Könnte man als Erwachsener denken, der diese Zeit glücklich hinter sich hat. Das würde verkennen, dass sich im Alter der Zielgruppe so viel verändert, innerlich und äußerlich, dass es für 11-, 12-, 13-Jährige tagesfüllend und lebenswichtig ist, mit sich selbst beschäftigt zu sein. Und ihnen nicht nur so vorkommt.
Amélie ist 14 Jahre alt, gedacht ist das Buch definitiv für Jüngere. Dazu passt auch das eher niedliche Cover. Und dass Amélie insgesamt noch sehr kindlich ist. Echte 14-Jährige würden sagen: kindisch. Aber so finden sich die jungen Mädchen in ihr wieder. Die eben noch nicht wissen, wie es ist, wirklich in der Pubertät und verliebt zu sein. Aber um so lieber davon lesen.
Zum Ende geht das Buch rasant auf die Zielgerade: alle Handlungsfäden werden schön ordentlich verknotet und abgeschnitten: der Aufräumstress mit ihrer Mutter wird beigelegt, sie schafft eine 1+ in Französisch, bekommt das heißersehnte, nie erlaubte Katzenbaby geschenkt, und erlebt einen filmreifen ersten Kuss mit Nicholas: unter einer Laterne, in leise rieselndem Schnee. Wäre gar nicht nötig gewesen, Band 2 gibt es schließlich schon.
Fazit:
Das verdrehte Leben der Amélie ist in Kanada und Frankreich ein großer Erfolg und wurde bereits verfilmt. Im französischen Original sind acht Bände erschienen. Auf Deutsch gibt es bislang zwei. Und auch bei uns wird das unterhaltsame Tagebuch sicherlich viele Freundinnen finden.
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