Aus unerfüllter Liebe den Tod suchen; welche Relevanz hat die Geschichte von Heinrich Heines armen Peter heute? Und wie lässt sich daraus ein Bilderbuch für Kinder machen? Peter Schössow wählt einen ebenso ungewöhnlichen wie genialen Weg: "Der arme Peter" wird als Theateraufführung dargeboten und spielt verschiedene Realitätsebenen gegeneinander aus. Anstatt den Selbstmord zu verklären, legt der Band den Schluss nahe, dass es trotz der bittersten Sehnsucht noch möglich ist, die schwersten Lasten zu tragen, auch wenn sie einem zeitweise Kopf und Verstand rauben mögen...
... so wie dem weißhaarigen Schauspieler, dessen Gesicht niemals zu sehen ist, weil es von einem langen und vermutlich schweren Holzbrett verdeckt wird. Diese Figur - die offensichtlich "ein Brett vor dem Kopf hat" - wird in ironischer Brechung mit den Versen aus Heines "Buch der Lieder" eingeführt, die Schössow dem Gedicht "Der arme Peter" voranstellt. Die Geschichte des armen Peter, der sich in Grete verliebt und daran zugrunde geht, dass diese einen anderen - den Hans nämlich - heiratet, wird durch diese Zeilen - die betonen, dass das Leben weitergeht und man ohne zu wissen wie seine Lasten trägt - und die witzige Reduzierung dieser Last auf ein Brett in eine deutlich distanzierte Perspektive gerückt. Wer den Band betrachtet und die Bilder - anstatt nur den Text - liest, wird sicherlich keine Huldigung an den großen Liebesschmerz finden. Das liegt einerseits an der Inszenierung von Heines Gedicht als Theateraufführung, andererseits am Spiel mit visuellen Klischees und an der guten Portion Humor und der Freude am Blödsinn: denn auch wenn der gute Peter, so wie Goethes Werther und viele andere Bücherwürmer, sich das Leben genommen haben mag: Nummer 5 lebt! und sitzt Schokoladeneis essend auf Platz Numero 5 natürlich im Theatersaal.
Wer das Buch "Der arme Peter" zur Hand nimmt, begegnet auf dem Titelblatt dem strahlenden Peter, der mit Büchern unter dem Arm und Schmetterlingen um den Kopf mit einem breiten Grinsen über die Bühne läuft. Der Theatervorhang, die Rampe und die erste Zuschauerreihe sind - wie auf den meisten Seiten des Bandes - sichtbar und sorgen dafür, dass die Rahmung immer bewusst bleibt. Der literarische Stoff aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird also unmittelbar konfrontiert mit dessen Rezeption im 21. Jahrhundert. Die grundlegende konzeptuelle Entscheidung Schössows erlaubt es auch, die Geschichte des armen Peter mit anderen visuell erzählten Geschichten über Liebe, Eifersucht und Sehnsucht in Bezug zu setzen: da wäre zum Beispiel das Mädchen, das sich die Karte schon im Mund die Jacke anzieht, auf dem Weg ins Theater gezeigt wird, am Ende des Stücks schmachtend am Bühnenrand steht, sich nach der Vorstellung - wie ein Groupie - an die Versen ihres Stars hängt und auf der Seite des Impressums mit verträumtem Blick und der Eintrittskarte in der Hand eine blaue Rose anhimmelt.
Besonders faszinierend und auch für Kinder durch den Spaß an der Suche sehr anregend ist "Der arme Peter" deshalb, weil jede Figur - sowie das schwärmende Mädchen - ihre eigene Geschichte hat, der man mit der nötigen Aufmerksamkeit durch das ganze Buch hindurch folgen kann. Der Mann mit dem Brett etwa, wird erst auf der Straße, dann in den Künstlergarderoben und auch auf der Bühne gezeigt - immer mit Brett natürlich. Ein etwas matter Teddybär - jede Art humorvollen Schabernacks ist erlaubt - starrt den Mann mit Brett mit aufgerissenen Knopfaugen an, klettert über die Lehne eines Sitzes in den Zuschauerraum, sitzt - vielleicht nicht ohne Ironie auf Platz 6 - und lässt sich von ganzem Herzen ins Geschehen hineinziehen. Beim Applaus hängt er beide Pfoten über den Vordersitz und wirft sich lächelnd und schmachtend der Bühne entgegen - der Kuscheltyp eben.
Schössow schafft es über die Inszenierung des Stoffes als Theateraufführung das Tragisch-komische des Gedichts "Der arme Peter" zu steigern und - ohne dem Stoff die Ernsthaftigkeit zu nehmen oder dem Gefühl der unerfüllten Liebe den Respekt - eine tief ironische Distanz und Kommentarhaltung aufzubauen. Den Humor und Witz zieht der Band dabei auch aus den visuellen Zitaten und Anspielungen auf unser kulturelles Gedächtnis: Charlie Brown und die Peanuts grüßen von den Wänden der Umkleide, der liebeskranke Peter wird als Protagonist aus Molières "Der eingebildete Kranke" gezeigt, mimt auf einem Felsen Caspar David Friedrichs "Der Wanderer über dem Nebelmeer", übernimmt die Rolle des vor Erbsendiät ausgemerkelten Woyzeck, der seine Liebste durchs Fenster im Gasthof beobachtet und wird als Maler vor der Leinwand gezeichnet in Bezug zu Schössow selbst gestellt.
Obgleich die schemenhaft wirkenden Gesichter der am Computer aus einem Materialpool generierten Bilder durch ihre Blässe und die tief-schwarzen Augenringe überaus düster-traurig-schaurig wirken, überwiegt die Freude am Spiel mit Zitaten und der Spaß an humorvollen Brechungen: wenn sich Peter fein säuberlich die Schuhe auszieht bevor er sich ins Grab zur Ruhe legt, verbindet sich der gruftige Charakter der Figuren (denen man durchaus zutraut in Särgen zu schlafen) mit dem ebenso genialen wie gnadenlosen Detailwitz.
Ein Meisterwerk ist Schössows "Der arme Peter" ganz sicher, fraglich bleibt aber: für wen. Das Bilderbuch könnte zu einem Liebhaberstück Intellektueller werden und bietet sich als humorvolle Lektüre für Erwachsene an. Heinrich Heines "Der arme Peter" wird hier aber am Hamburger Thalia Theater "von Kindern für Kinder" gespielt. Ist es denn nun auch ein gelungenes Kinderbuch? Heines Gedicht ist sicherlich keine Kinderliteratur und die vielfältigen Bezüge und ironischen Brechungen sind für Kinder wohl kaum verständlich. Dennoch ist die Lektüre auch für die Kleinen ein Erlebnis: das Sichtbarmachen des Theaterapparats und der Wechsel der Blicke auf Bühne und Publikum sind faszinierend und das Suchen nach Figuren und deren Geschichten macht großen Spaß. Aufgrund des Themas und der düsteren Darstellung würde ich das Buch jedoch eher ab 6 Jahren und nicht - wie der Verlag es vorschlägt - ab 4 Jahren empfehlen.
Fazit:
"Der arme Peter" ist unterhaltsam, witzig und intelligent: ein Meisterwerk mit morbidem Charme und einer guten Portion heiterer Bissigkeit statt trauriger Bitterkeit! Ein Lesevergnügen für Erwachsene und Kinder ab 6 Jahren.
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