Kinderbuch des Monats [01.2013]. Ben schaut nicht schlecht, als in der großen Kiste, die der Hausmeister ächzend vor seiner Wohnungstür absetzt, ein Junge steckt, der fast so aussieht wie er. Offensichtlich handelt es sich hierbei um einen Roboter. Was hat sich sein "Computerfreak-Vater" diesmal nur dabei gedacht?
Ben, der uns seine Geschichte selbst und ganz gar ungeschminkt erzählt, führt die Leser mit dem Satz "Ich habe einen neuen Bruder. - Sein Name ist Nick. - Er kam vor sechs Wochen mit der Post. - Damit fing der Ärger an." mitten in das Abenteuer.
Schon Bens erste Schilderungen der ungewöhnlichen Situation bringen den Leser unweigerlich zum Schmunzeln und die ersten zaghaften Annährungen zwischen den ungleichen "Brüdern" erst recht. Natürlich findet Ben es absolut cool einen Roboter-Jungen zu Hause zu haben. Doch die Sache entwickelt sich weitaus komplizierter, als gedacht. Nick ist aus Paris nach New York, vom Bruder seines Vaters, geschickt worden. Dieser ist ebenfalls ein echter Computerfreak; im Gegensatz zu Bens Vater jedoch, der sich mit Software wie kaum ein anderer auskennt, versteht sich dieser am besten auf Hardware. Der in Paris lebende Onkel hat selbst das Pendant zu Nick bei sich - zusammen wollen sie die Authentizität ihrer künstlichen Lebensformen unter normalen Menschen testen, bevor die "Roboter" auf dem Markt eingeführt werden. Die wichtigste Frage hierbei: Werden es die anderen Menschen merken, wenn plötzlich ein Roboter unter ihnen ist?
Doch die beiden Wissenschaftler haben die Rechnung ohne Bens Mutter gemacht, die die Ähnlichkeit mit ihrem erstgeborenen Sohn, der bereits mit einem Jahr verstorben ist, nicht erträgt. Nick soll also so bald wie möglich wieder zurück nach Paris geschickt werden.
Der Junge aus der Kiste, der sich dorthin immer wieder verkriecht weil er dort Geborgenheit findet, versucht alles, um das Herz der Mutter zu erobern. Obwohl die ersten Schultage mit Nick mehr als turbulent sind, möchte Ben ihn nicht mehr missen. Seine Schulkameraden sind hellauf begeistert von Nick und sogar der Schuldirektor wittert die Gelegenheit, mit dem vermeintlich hochbegabten Nick endlich mal bei einem Schulwettbewerb zu gewinnen.
Sein stets charmanter künstlicher Bruder verdreht sogar "Annie Banani" den Kopf, die sonst immer in Ben verliebt war; wobei sich Ben zunächst entlastet dann aber verpflichtet fühlt seinen Bruder darüber aufzuklären, dass man mit Mädchen besser gar nichts zu tun haben sollte.
Schon länger aber fühlt sich Ben von eigenartigen Gestalten beobachtet und die Begegnung mit einem Jogger, der aus unerfindlichen Gründen Nick berührt, sowie mit einem Hausmeister, den er sonst noch nie in der Schule gesehen hat, machen ihn zunehmend stutzig. Als die Verfolgung durch die Unbekannten immer offensichtlicher wird und auch noch Bens Onkel und Nicks Roboter-Bruder entführt werden, spitzt sich die Situation derart zu, dass die ganze Familie fliehen muss - es ist nur allzu klar: die Verfolger schrecken vor gar nichts zurück, um Nick in die Hände zu bekommen. In diesem Fall wäre der einzige Ausweg - so Bens Vater - Nicks "Festplatte" vollkommen zu löschen. Aber das kann und will Ben nicht akzeptieren. Dann haben die beiden Brüder eine ebenso verrückte wie geniale Idee...
Das zweite in Deutschland erschienene Kinderbuch von Evan Kühlman, mit dem Originaltitel "Brother in a Box", ist weitaus vielschichtiger als es zunächst den Anschein macht. Nach und nach eröffnet er mit dem klugen und unterhaltsamen Plauderton, mit dem er Ben auf ziemlich witzige Weise erzählen lässt, die schwere Last, die die ganze Familie mit sich trägt. Ein jeder versucht allein mit der Trauer um den erstgeborenen Sohn umzugehen. Bens Vater, indem er versucht hat, einen unzerstörbaren Sohn zu kreieren, Bens Mutter, indem sie die Erinnerung an ihren Sohn zu verdrängen versucht und Ben, der ebenso traurig ist, weil er immer gespürt hat, dass ein wichtiger Teil seines Lebens fehlt.
Wie in seinem deutschsprachigen Debüt "Der letzte unsichtbare Junge", das den Kinderbuch-Star erhalten hat (http://www.kinderbuch-couch.de/kuhlmann-evan-der-letzte-unsichtbare-junge.html) und für den deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde, gelingt es Evan Kuhlman, mit seinem humorvollen und für Jungs unwiderstehlichen Erzählton eine berührende Geschichte hinter der Geschichte zu erzählen - dadurch entsteht eine sympathische Nähe zu dem Ich-Erzähler Ben. Jungs - und bestimmt auch Mädchen, die ebenso humorvolle wie spannende Abenteuer mögen - werden sich auf Anhieb angesprochen fühlen und sich unmittelbar mit dem Protagonisten identifizieren können.
Dabei ist die fantasievolle und einfallsreiche Rahmengeschichte über die Möglichkeit, einen künstlichen Menschen zu entwickeln, überaus reizvoll; zumal sie in allen Details logisch und durchaus einleuchtend vermittelt wird. Evan Kuhlman stellt dabei erneut sein Geschick unter Beweis, seine Akteure und ihre Alltagswelt sehr lebendig, geradezu filmreif in Szene zu setzen. Er erzählt scheinbar so unbemüht und voller Esprit, dass auch ältere Leser/innen von dem turbulenten Verlauf der Geschichte mitgerissen werden.
Kurzweilig ist dieses Science-Fiction-Abenteuer um einen Roboter-Bruder aber auch durch die vielen skurrilen Situationen, die durch Nicks Andersartigkeit hervorgerufen werden. Angefangen von der "Roboterpsychologie" die Ben entwickeln muss, um Nick endlich aus dem Schulspind zu bekommen, bis hin zu Nicks eigenwilliger Interpretation von menschlichen Eigenheiten, ist die Geschichte von Evan Kuhlman mit jedem Umblättern für eine Überraschung gut.
Auch wenn Bens Gefühle manchmal sehr rührig wieder gegeben werden, so nimmt man ihm auf jeden Fall ab, dass er sehr an seinem Bruder hängt, der zwar nicht aus Fleisch und Blut ist, aber doch voller ehrlicher Gefühle steckt. Natürlich ist Ben auch eifersüchtig auf Nick, dem alles auf Anhieb gelingt - egal was er in Angriff nimmt. Doch besondere Begegnungen, wie die mit einem autistischen Mädchen, zeigen wie außergewöhnlich Nick ist.
Es ist leicht, Nick ins Herz zu schließen, so geht es nicht nur der ganzen Schule, sondern auch uns Lesern. Darum stellt sich die Frage, die sich von Anfang an wie ein roter Faden durch das Buch zieht, ob man einen Roboter einfach auslöschen darf. Nick selbst ist immer klar, dass er kein Mensch aus Fleisch und Blut ist. Dennoch wirkt er nie wie eine Maschine, sondern wie ein überaus begabter Junge, der tatsächlich auch seine Eitelkeiten hat. Ist ein Wesen, das Gefühle und viele emotionale Erinnerungen hat, sie miteinander verknüpft und so zu einer eigenen Persönlichkeit wird, nicht auch schützenswert? Darf man Nicks Existenz einfach so auslöschen - und alles was er ist, für immer verloren geben? Am Ende wird die Frage immer drängender und wird vor allem unsere "Digital Natives" vielleicht zum Nachdenken bringen.
Fazit:
Evan Kuhlman überlässt es wieder ganz seinem Protagonisten "seine" Geschichte zu erzählen. Und so entwickelt sich in Bens unwiderstehlichen Plauderton ein überaus witziges und fesselndes Abenteuer um zwei ungleiche Brüder, um den Zusammenhalt einer Familie - oder, kurz gesagt, um "Nick Perfect", der künstlichen Lebensform, die die Herzen aller erobert.
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