Der Kleine und das Biest
- Klett Kinderbuch
- Erschienen: Oktober 2012
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Ausgezeichnet mit dem Kinderbuch-Couch-Star*. Monster sind bedrohlich, Furcht einflößend und zum Gruseln. Doch manchmal ist der Monsterstatus vorüber gehend und kann mit Geduld und Liebe überwunden werden, bis unter dem Monster wieder die eigene Mutter zum Vorschein kommt.
Ein kleiner Junge läuft mit einem riesigen Biest im rosa Kleid durch den Park und steuert einen Supermarkt an. Dort angekommen, schnappt er sich den Einkaufswagen, nimmt verschiedene Sachen aus den Regalen und legt sie in den Wagen und schiebt ihn durch die Gänge. Immer hinter ihm und vollkommen antriebslos: das Biest.
Szenenwechsel: zu Hause spielt der Junge unter einem Tisch mit einer Eisenbahn, während es um ihn herum Papierschnipsel regnet. Er lässt alles stehen und liegen und tröstet das traurige Biest, das am Tisch sitzt und über einem Fotoalbum brütet. Dann ist es Nacht und der Junge liegt schlafend im Bett. Hinter ihm schläft, groß und schwer, das Biest. Und fängt an zu schnarchen, so dass für den Jungen an Schlaf nicht mehr zu denken ist.
Wieder ein Szenenwechsel: der Junge und das Biest spielen Fußball, bzw. rennt der Junge aufgeregt herum, während das Biest schlapp an einem Fleck steht. Ein Auto fährt vorbei und hält an. Nun fletscht das Biest die Zähne und wird ganz und gar böse und aus dem Auto biestert ein anderes Biest zurück. Doch der Junge umarmt das weibliche Biest und klettert zum männlichen Biest ins Auto. Nun folgen verschiedene Einblicke in das Leben des Biestes und des Jungen über eine längere Zeitspanne verteilt: am Eisstand, beim Spazierengehen, im Park, im Schwimmbad, beim Einkaufen, und viele mehr. Und nach und nach wird aus dem Biest eine hübsche junge Frau, die lacht und herumtobt und Fußball spielt und dank eines neuen Freundes wieder sehr gut drauf ist. Nur das männliche Biest ist noch etwas länger biestig.
Es gibt Situationen im Leben, in denen werden die eigenen Eltern zu Biestern. Damit ist nicht die missmutige Stimmung gemeint, wenn das Zimmer nach dreimaligem Ermahnen immer noch nicht aufgeräumt ist. Nein, hier geht es um eine langanhaltende, verbiesterte Stimmung, in denen sich die Eltern komplett verwandeln und nicht mehr sie selber zu sein scheinen: sie giften sich gegenseitig an, sind antriebslos, haben Stimmungsschwankungen, vernachlässigen sich und überhaupt ist mit ihnen nicht richtig viel anzufangen. Solche Transformationen durchlaufen Eltern recht häufig bei Trennungen und dann stehen Kinder nicht nur vor dem Dilemma, sich künftig zwischen Mama und Papa aufteilen zu müssen, nein, sie müssen auch mit den Gefühlswandlungen und - mitunter - Wesensveränderungen ihrer Eltern klar kommen.
"Der Kleine und das Biest" rückt genau diese Thematik in den Mittelpunkt der Erzählung und nähert sich somit der Thematik "Scheidung und die Auswirkungen auf Kinder " auf eine neue Weise. Hier steht die Kraft im Mittelpunkt, die Kinder aufbringen müssen, um ihre von der Trennung gebeutelten Eltern, die eher einem Trauerkloß gleichen und nur noch lethargisch vor sich hin stieren, durch den Tag zu bringen. Anstatt Trauer, Verzweiflung und Wut der Kinder über die Trennung zu thematisieren, stehen hier die Trauer und die Wut, die Gefühle der Eltern im Mittelpunkt. Im Gegensatz zu diesen emotionalen Trümmerhaufen erscheint der kindliche Charakter überraschend souverän, pragmatisch, selbstständig, verständnisvoll und unglaublich stark. Mit einem ironischen Augenzwinkern begleitet er seine Mutter durch die Tiefen der Trennung. Er hilft ihr dabei, über die Runden zu kommen (indem er z.B. die Einkäufe maßgeblich erledigt) und entdeckt dabei neben all den Problemen trotzdem auch den ein oder anderen Vorteil, wenn er z.B. statt nur einer Süßigkeit gleich eine ganze Palette auf das Kassenband legt, ohne, dass seine Mutter protestiert. Seine Handlungen zeigen, dass es vor allem darum geht, füreinander da zu sein, Liebe und Geborgenheit zu geben, zu trösten und Trauer auszuhalten. Und nach und nach die Rückverwandlung des Biestes in die Mutter, die vorher da war, mitzuerleben und mit zu fördern.
Es scheint eigenartig, dass die Gefühle des kleinen Jungen so ganz in den Hintergrund treten, doch seine pragmatische Sichtweise und das Vermögen, das Beste aus der Situation zu machen, sind dennoch sehr überzeugend und leisten gute Hilfe, sollten die eigenen Eltern in einer ähnlichen Situation sein. Die sonst so klar verteilten Rollen des starken Erwachsenen und des schwachen Kindes werden in dieser Geschichte komplett vertauscht, bis sie sich, nach einem langen Prozess, wieder umkehren. Manche Szenen wirken dadurch fast komisch, wenn z.B. die Mutter nachts in das Bett des Jungen tappt, um sich an ihn zu kuscheln und ihn mit ihrem Schnarchen um den Schlaf zu bringen und der Junge es, ohne mit seinem Schicksal zu hadern, geduldig hinnimmt und es lediglich mit einem "Dann ist es vorbei mit gemütlich." kommentiert. Denn ist es nicht normalerweise anders herum? Hier wird einmal nicht das Kind bedauert, sondern die Eltern, die, als Opfer ihrer Trennung, für einen mehr oder weniger langen Zeitraum gesellschaftsunfähig sind und mit diesem Bündel an Emotionen dem Trennungskind eigentlich eine doppelte Bürde aufhalsen.
Passend zu den praktischen Handlungsempfehlungen, die der kleine Hauptheld im Buch lakonisch, aber nie verbittert oder verzweifelt gibt, werden diese in kurzen, trocken, fast berichthaften aber dennoch einfühlsamen Sätzen vermittelt. Dadurch entsteht, trotz aller Tragik, eine gewisse Komik und macht aus dem pragmatischen kleinen Jungen, der einfach das Beste aus der Situation macht, einen kleinen Alltagshelden.
Jedoch ist nicht ganz von Anfang an klar, wie es zu der Situation kam. Die Geschichte beginnt unvermittelt mit dem Satz: "Wenn deine Mutter sich in ein Biest verwandelt hat, ist alles anders." und erst nach und nach erschließen sich dem Leser die Zusammenhänge, wodurch bereits ab Beginn des Buches die Aufmerksamkeit gefesselt ist. Erzählt wird die Handlung ausschließlich aus dem Blickwinkel des Jungen, denn die Veränderung seiner Eltern ist für ihn am meisten spürbar und wird dafür umso eindrücklicher.
Das, was Kindern in solchen Situationen häufig Angst einjagt, nämlich Eltern, die nicht mehr wieder zu erkennen sind, weil sie z.B. antriebslos sind und sich gehen lassen, wird auch in den Illustrationen sehr schön dargestellt. Die Mutter wird anfänglich als riesengroßes Biest, die durchaus eine gewissen Ähnlichkeit mit dem Biest aus "Die Schöne und das Biest" aufweist, gezeichnet: mit riesigen unförmigen und schuppigen Armen und Beinen, einem furchterregenden Maul mit gigantischen Zähnen, mit strähnigen Haaren und Hörnern, der Vater gar mit furchteinflößenden Wildschweinhauern. Doch alle Szenen sind in warme Farben und in ein warmes, weiches Licht getaucht, das den Biestern ihren Schrecken nimmt und der Szenerie eine gewisse Geborgenheit verleiht. Ist der Kontrast zwischen Licht und Schatten zu Beginn des Buches noch sehr deutlich, gleicht es sich immer weiter an, je mehr sich die Situation wieder normalisiert.
In den meisten Fällen folgt auf ein erfolgreiches Buch der Film, in diesem Fall war es anders herum. Bereits 2009 ist der animierte 3-D-Kurzfilm "Der Kleine und das Biest" erschienen. Er lief seitdem nicht nur bei "Siebenstein" im zdf sondern wurde auch im In- und Ausland mit vielen Preisen ausgezeichnet. Nun folgt die Buchausgabe, in der jedoch nicht nur einfach Sequenzen des Films abgedruckt wurden, nein, die Autoren haben jede Zeichnung bis zur Buchtauglichkeit bearbeitet und so ein stimmiges Ganzes geschaffen.
Fazit:
Wenn sich Eltern trennen, leiden alle darunter. Doch manche Kinder gehen besonders souverän und pragmatisch damit um und machen einfach das Beste aus der Sache - humorvolle und einfühlsame Handlungsempfehlung für Kinder in ähnlichen Situationen, die einmal mehr die Augen öffnet und einfach Mut macht, durchzuhalten, bis es wieder besser wird.
Marcus Sauermann, Klett Kinderbuch
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