Streichholzburgen
- Bloomsbury
- Erschienen: Mai 2012
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Jan hört der Welt genau zu und er hört auch seine Schwester Lisa, obwohl sie niemals spricht.
In Jans Welt ist alles lebendig - es gibt kaum etwas, das schweigt. Sogar der Kühlschrank redet mit ihm und mischt sich in seine Gedanken ein. In der Welt seiner Schwester hingegen schweigt alles, Lisa ist Autistin und sie findet nur schwer Kontakt zu ihrer Außenwelt.
Da die Aufmerksamkeit von Jans Eltern ganz auf Lisa gerichtet ist, hat sich der Junge eine eigene Welt erschaffen, in der sein Papagei Malcolm, seine Superheldenfigur "Muskelprotz" sowie Teddy "Möchtegern" und sogar das Feuerwehrauto rege Gespräche mit ihm führen. Es redet so viel um ihn herum, dass er sich an manchen Tagen mit Kopfschmerzen zurück ziehen muss, weil es ihm zu viel wird. Die Dialoge die Bettina Obrecht zwischen Jan und seine "Gefährten" dabei entspinnt, sind ebenso klug wie sie auch so manches Mal witzig und pointiert sind. Etwa, wenn der Kühlschrank seine Auslassungen stets mit dem Satz "Mir ist kalt" beendet und das Feuerwehrauto sich nicht mit einer Kerzenflamme zufrieden geben will, sondern ein echtes Feuer verlangt. So manches Mal wundert sich Jan auch, dass Malcolm von so vielen Dingen etwas versteht, wovon ein Papagei eigentlich keine Ahnung haben dürfte.
Neben den Worten, die nur er mitbekommt, sind es aber auch die Spannungen zwischen seinen Eltern, die den überaus sensiblen Jan beschäftigen. Jans Mutter erträgt die Situation mit ihrer autistischen Tochter nicht länger, ihre Kräfte sind aufgezehrt und Jan, der das mitbekommt, befürchtet, dass seine Mutter fortgehen könnte. Während die Luft um seine Eltern ganz gelb ist mit Worten, die die Eltern denken, aber nicht auszusprechen wagen, versucht Jan Kontakt mit seiner Schwester aufzunehmen. Er möchte Lisa dazu überreden, es mit der Welt zu versuchen. Er möchte Lisa überreden irgendwie mit der Mutter zu kommunizieren, so dass sie wieder Hoffnung schöpft, uns sei es nur, dass Lisa auch mal andere Sachen als Tortellini isst.
Bettina Obrecht erzählt Jans Geschichte sehr ruhig und wunderbar bildstark. Mit dem Blick eines Kindes auf die Lebenssituation zeigt sie reallitätsnah und unsentimental, wie es ist, einen Bruder oder eine Schwester mit Behinderung zu haben. Dabei ist ihre Erzählung aus der Perspektive Jans ganz frei von Schuldzuweisungen. Auch Jan versteht und erklärt, dass niemand Schuld an der Situation hat. In der Sprachlosigkeit, die zwischen ihm und seinen Eltern herrscht, findet Jan nur in seinen imaginären Gesprächspartnern eine Fluchtmöglichkeit aus dem eingefahrenen Alltag. Die Fragen, die sich Jan stellen, diskutiert er über seine Gefährten mit sich selbst aus, kommt aber so nicht weiter. Bettina Obrecht findet jedoch sehr schön den Bogen von der aussichtslosen Situation zu einem echten Befreiungsschlag, von dem alle Familienmitglieder profitieren.
Als Jan zu dem Schluss kommt, dass Lisa unbedingt einen Hund braucht, spürt er selbst, dass sich etwas ändern muss. Sicherlich wünscht er sich vor allem selbst einen Hund, doch er hat sich mit seiner Position, dass er erst an zweiter Stelle kommt, längst abgefunden. Aber auch der Umstand, dass er Lisas Bedürfnisse vorschiebt, hilft ihm in dieser angespannten Situation nicht. Als Jan ein paar Tage Großeltern verbringt, die stets in ihren eingefahrenen Mustern leben, findet er zwar keine Antworten doch sie geben ihm eine klare Struktur und Ruhe. Jan verbringt viel Zeit mit seinem Großvater im Bastelkeller, wo der Rentner berühmte Bauwerke mit Streichhözern nachbaut.
Als Jan von seinen Eltern erfährt, dass Lisa zunächst versuchsweise in ein besonderes Haus gehen wird, wo man ihren Bedürfnissen gerecht wird, ist er zunächst entsetzt. Bei seiner neuen Freundin Carla geht es doch auch mit ihrem behinderten Bruder. Ihre Familie nimmt ihn überall hin mit. Vielleicht könnte Lisa das auch irgendwann? Jan wünscht sich, er könne einen großen Streichholzturm bauen, in dem er, Lisa und der Hund leben könnten. Waren Jans Gefühle für seine Schwester zunächst ziemlich vage, spürt er nun, dass er sie auf keinen Fall missen möchte uns dass sie einfach zusammen gehören.Jan, der seit seiner Geburt gelernt hat, mit seiner älteren Schwester umzugehen, ist der einzige, der es schafft, sie für ganz kurze Augenblicke zu erreichen. Mit einer unglaublichen Ruhe und viel Einfühlungsvermögen berührt er sie irgendwie. Vielleicht versteht er als einziger, was sie braucht. Und so traut er seiner Schwester doch mehr zu als so manch anderer um ihn herum. Als er ihr von seinem Großvater Streichhölzer und Kleber mitbringt, baut sie wunderschöne Schlösser - als hätte sie nie etwas anderes gemacht.
Zaghaft findet die Familie in einem ersten Urlaub zu dritt zusammen, Jan beschreibt, wie fremd es sich ohne Lisa anfühlt. Ihre gemeinsame Sprache scheint noch nicht ganz gefunden, doch Jans Eltern haben mehr verstanden als Jan es geahnt hat.
Fazit:
Bettina Obrecht findet in wundervollen Wortbildern Parallelen, die Jans Sichtweise sehr einfühlsam verdeutlichen. "Streichholzburgen" ist ein Buch, das man vor allem betroffenen Geschwisterkindern empfehlen kann, denn ich denke, dass sie sich über Jans Gedanken und Gefühle verstanden fühlen. Aber nicht nur Betroffene werden die Geschichte, die mal witzig, mal nachdenklich und auch mal traurig daherkommt, mögen. Der schöne Spannungsbogen des Romans mit seinem berührenden Überraschungsmoment wird sicherlich viele junge Leser ab 10 Jahren mit einem Lächeln zurück lassen.
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