[ab 5 Jahren]
Das Märchen von "Hänsel und Gretel" birgt von jeher einiges Gruselpotenzial. Doch noch niemand hat dies bisher so deutlich und beeindruckend illustriert, wie Lorenzo Mattotti
Das Märchen von Hänsel und Gretel ist als bedeutender Teil des deutschen Kulturgutes beinahe jedem bekannt. Die beiden armen Kinder Hänsel und Gretel leben mit ihrem Vater und der bösen Stiefmutter in einem Haus. Diese möchte sich der beiden Kinder jedoch entledigen und befiehlt ihrem Mann, sie in den Wald zu bringen und dort auszusetzen. Nach einem Fehlschlag gelingt dem Vater, die Kinder im Wald zurück zu lassen und einsam irren die beiden Geschöpfe dort umher. Schließlich gelangen sie an ein altes Häuschen aus Brot und Zuckerwerk, das die beiden hungrigen Kinder unwiderruflich anlockt. Die darin lebende alte Frau, eine Hexe, lädt sie zu sich hinein und verdingt Gretel als Magd. Hänsel jedoch will sie mästen und hält ihn daher in einem Käfig gefangen. Als sie ihn schließlich im Ofen backen will, nutzt Gretel eine günstige Gelegenheit und stößt die alte Hexe in den Ofen hinein. Die Kinder fliehen mit Gold und Edelsteinen bepackt von diesem Ort und kehren glücklich wieder nach Hause zurück.
Märchen sind nichts für zart besaitete Gemüter. Zumindest nicht, wenn man sich ihre Handlung einmal wirklich vor Augen führt. In diesem Fall setzt ein Vater zunächst mutwillig seine eigenen Kinder aus, die anschließend mutterseelenallein durch den Wald irren und schließlich an eine gemeine alte Hexe geraten, die eines der Kinder essen will. Das scheint eher Stoff für einen Horrorfilm zu sein, als für ein Kinderbuch. Und doch haben sich die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm über Jahrhunderte hinweg gehalten und sind Teil der deutschen Literaturgeschichte geworden.
Ein Grund dafür ist, dass Kindern die geschilderte grausame Handlung immer noch abstrakt erscheint und die böse Hexe einem Feindbild entspricht, das im Reich der Mystik zu Hause ist und nicht real existiert. Und eben diese Mystik transportiert Lorenzo Mattotti in seiner graphischen Umsetzung des Märchens sehr überzeugend. Dunkelheit und Schwere dominieren die Illustrationen, die durchweg in schwarz und weiß gehalten sind, wobei schwarz überwiegt. Fast scheint es, als wäre Mattottis Wald besonders dunkel, finster und undurchdringlich. Nur dann und wann schimmert ein Lichtblick durch, der allerdings alsbald vom schwirrenden Schwarz verschlungen zu werden droht.
Hänsel und Gretel sind jeweils nur schemenhaft zu sehen, feingliedrige Gesichtszüge oder Mimik sind nicht erkennbar. Dafür wohnt den Bildern dennoch eine ausdrucksstarke Sprache inne, die sich durch ihre Dynamik ergibt. Mattotti zeichnet mit starkem, grobem Pinselstrich, der in seinem Schwung auf den Bildern erkennbar ist und diesen Leben einhaucht. Details sind auf den Bildern erst nach genauem Hinsehen zu erkennen, dort lauert ein Wolf im Unterholz, da schimmert das Hexenhäuschen durch das Walddickicht.
Die großformatigen, doppelseitigen Illustrationen stehen ganz für sich und wechseln sich jeweils mit einer Text-Doppelseite ab. Auf diesen wurde sich wiederum ganz auf den Text beschränkt, der zentral als überschaubarer Textblock angeordnet ist. Textlich orientiert sich die Ausgabe an den "Kinder- und Hausmärchen" aus dem Jahre 1857 und wurde sprachlich dem heutigen Gebrauch angeglichen. Daher wirkt das Märchen zwar sehr authentisch aber dennoch auch für heutige Kinderohren gut verständlich. Als Schriftfarbe wurde ein dunkles, lesefreundliches Grün gewählt, auch als Farbe der Hoffnung bekannt und daher neben Mattottis düsteren Zeichnungen ein Lichtblick. Herausgehobene verzierte Initialen zu Beginn jedes Absatzes bewirken trotz der ungewöhnlichen Illustration das klassische Märchenbuch-Gefühl: heimlich, verzaubert und irgendwie wunderbar. Durch die graphisch ruhige Anordnung des Textes gewähren die Seiten willkommene Entspannungsmomente neben Mattottis düsteren und dynamischen Zeichnungen.
Lorenzo Mattottis Illustration von "Hänsel und Gretel" ist sicher keine klassische Märchenbuchillustration und sollte gut überlegt sein. Jedoch stehen Kinder dem düsteren Illustrationsstil viel unkritischer entgegen, als Erwachsene vielleicht denken. Auf jeden Fall ist es ein sehr bibliophiles Buch, welches es lohnt, im Regal zu haben.
Fazit:
"Hänsel und Gretel" von Lorenzo Mattotti ganz neu interpretiert: mit Mut zum Schwarz, aber dennoch beeindruckend und faszinierend.
Deine Meinung zu »Hänsel und Gretel«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!