Gertrud und Gertrud
- Mixtvision
- Erschienen: September 2011
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Zwei Möwen mit demselben Namen? Das kann doch nicht gut gehen?!
Gertrud und Gertrud sind zwei Möwenschwestern, die gemeinsam bei ihren Eltern hoch oben auf einem Felsen über dem Meer aufwachsen. Sie sind die ersten Möwen mit einem richtigen Namen und schon von daher etwas ganz Besonderes. So schön sie das anfangs auch finden, irgendwann sind sie genervt davon, nie zu wissen, welche Gertrud nun gemeint ist, wenn ihr Name gerufen wird. So beschließt eine der Gertruds eines Tages, wegzufliegen und woanders ihr Glück zu versuchen, irgendwo, wo sie sich nicht mehr ihren Namen teilen muss. Mitten in der Nacht fliegt sie los und landet auf einer kleinen Insel, auf der ein großes Walross lebt. Das ist gar nicht erfreut über diesen Eindringling, aber die beiden arrangieren sich miteinander. Gertrud wird zum exklusiven Fischlieferanten und außerdem fortan Emma genannt. Doch nach drei Jahren hat Emma alias Gertrud dieses Leben gründlich satt und beschließt, wieder in ihre Heimat zurück zu fliegen. Da sie ja nun auch Emma heißt, kann keine Verwechslungsgefahr mit ihrer Schwester mehr bestehen. Doch wie groß ist das Staunen, als sie zu Hause auf ihre Schwester Gertrud trifft, der genau dasselbe widerfahren ist. So sind aus den beiden Gertruds zwei Emmas geworden und natürlich geraten sie darüber in einen heftigen Streit. Doch plötzlich bemerken sie, dass mittlerweile alle Möwen, die seit ihrem Weggang geschlüpft sind, einen Namen erhalten haben. Und zwar: Gertrud. So schallt es von allen Felsen immerzu "Gertrud". Und da Möwen nun einmal Gertrud heißen, nehmen die beiden Emmas ihren alten Namen wieder an und sind von diesem an Tag unzertrennlich.
"Wer bin ich?", "Woher komme ich?", "Was kann ich?", "Wohin gehe ich?" sind Fragen, die sich nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder stellen. Ein wichtiger Schritt in diesem Prozess der Selbstentdeckung ist demzufolge auch die Verortung des eigenen Ich in der Umwelt. Und da gerät man nicht nur als Möwe ins Grübeln, wenn eine andere Person der eigenen bis aufs Haar (oder auf die Feder) gleicht und dann auch noch den gleichen Namen hat. Das mag eine ganze Weile lustig sein, aber irgendwann erwacht das Ego und will zeigen, wer es ist und was es kann. Doch manchmal muss dafür erst die passende Umgebung geschaffen werden, die in diesem Fall nur durch einen radikalen Bruch und den Weggang der Möwe zu erreichen ist.
So steinig der Weg von Gertrud auch sein mag, er ist die einzige Möglichkeit für sie, einmal durchzuatmen und zu ihrem eigenen Selbst zu finden. Dass sie dabei ausgerechnet an ein Walross gerät, das sie selbst als Individuum nicht wahrnimmt, sondern als Bedienstete und ihr daher auch gleich einen anderen Namen verpasst, stört Gertrud anfangs nicht weiter, so frei fühlt sie sich. Doch auch hier spürt sie nach einiger Zeit die Enge und begibt sich, als vermeintlich gestärktes Individuum, wieder nach Hause. Doch es hat schon längst die Ironie des Schicksals zugeschlagen, denn ihre Schwester Gertrud hat genau das gleiche erlebt. So stehen sich am Ende zwei Schwestern gegenüber, die sich doch mehr gleichen, als sie zuerst dachten und darin ihre Individualität erkennen. So akzeptieren sich beide Möwen als Teil eines Ganzen und auch, wenn sie ihre Individualität aufgeben, haben sie doch zu sich selbst gefunden.
Diese feinfühlige Geschichte wurde von Irene Mehl ebenso feinfühlig illustriert und zeigt federleichte Möwen in weißem Federkleid. Dazu bedient sie sich einer Collagentechnik, die Federn und Papiere, gemalten Farbflächen und grafische Akzentuierungen miteinander zu einem stimmigen Ganzen kombiniert. Dabei ist ihr eine sehr authentische Darstellung der Möwen gelungen, die beständig in Bewegung und großer Aufregung erscheinen. Jedoch überzeugen beide Gertruds auch auf der emotionalen Ebene mit einer ausdrucksstarken Mimik. Die Farbgebung ist dabei dem rauen Küstenton nachempfunden und bedient sich aus der gedeckten Blau-, Grau- und Grünpalette, bei der dem Leser scheinbar die Meeresbrise um die Nase weht.
In die Illustrationen eingebettet sind die Textpassagen, die stringent und gut verständlich den Handlungsverlauf schildern. Dabei bedient sich Katja Alves ausdrucksstarker Adjektive und Verben, die die Geschichte auch emotional entwickeln, ohne jedoch extrem zu werden. Kleine Wortspielereien durchziehen den lockeren und kindgerechten Erzählstil und verleiten den Leser, trotz der sensiblen und ernsten Thematik, das ein oder andere Mal zum Schmunzeln. Denn auch auf der Suche nach dem eigenen Ich hilft es, Humor zu behalten.
Fazit:
Eine feinfühlige Geschichte über zwei Möwen, die nach dem eigenen Ich suchen und darüber zu einander und zu ihrem Platz in der Möwengesellschaft finden.
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