Ausgezeichnet mit dem Kinderbuch-Couch-Star*. Kinder sind wirklich reich mit Phantasie beschenkt, wie die kleine Pauline auf ihrer turbulenten Reise eindrücklich beweist.
Pauline, ein kleines Mädchen mit zerzaustem, dunklem Haar und großen Mandelaugen, sitzt im Kinderzimmer. Dort herrscht ein ziemliches Durcheinander: Bilder, Stifte, Murmeln, Decken, Klebeband und Schuhe liegen herum. Sie ist vertieft in ihr Spiel, aber es hilft nichts: sie soll aufräumen, ihre Schuhe anziehen und endlich fertig werden, denn sie müssen los. Doch Pauline interessieren die Ermahnungen und verzweifelten Antreibe-Versuche gar nicht, zu sehr ist sie mit Spielen beschäftigt und verlässt erst langsam und schließlich komplett die sie umgebende Realität. Gänzlich abgetaucht in eine Phantasiewelt schwebt Pauline zusammen mit ihrem kleinen Vogel in den Wolken, teilt sich mit anderen Vögeln in den hohen Baumkronen Beeren, erkundet in Käfergröße Wald und Wiesen, taucht hinab zu den Meerjungfrauen und entdeckt dort gigantisch-phantastische Quallen. Danach entschwindet sie hoch hinaus und begutachtet zusammen mit dem Mond funkelnde Sterne, hüpft jauchzend durch Regen, schwingt sich an Lianen durch Baumkronen und sitzt einer Wolke auf der Hand, um anschließend an Luftballonen wieder in ihr Zimmer zu schweben - und alle neuen Bekannten mit ihr. Dort schnell das Licht ausgeknipst, die Schuhe angezogen und los geht es.
Wer kennt es nicht? Der tägliche Gang zum Kindergarten artet zu einer schweißtreibenden Angelegenheit aus, wenn das Kind den vorher im Kopf festgelegten Zeitplan durcheinander bringt. Jetzt nur noch schnell Zähne putzen, dann anziehen und los? Fehlanzeige. Denn während man als Eltern noch versucht, sich selbst und die Wohnung halbwegs in Ordnung zu bringen, taucht der Nachwuchs ins Spiel ab und vergisst darüber alles. Da nutzen Ermahnungen und Rufe nichts, das Kind scheint komplett versunken, man selbst abgeschrieben. So wie Pauline in der Geschichte "Die große Reise von Fräulein Pauline" von Charlotte Gastaut.
Pauline wird ermahnt, erinnert, gerügt, gedroht - ohne Wirkung. Sie ist vollkommen durch ihr Spiel absorbiert und blendet die Außenwelt vollständig aus. Und wenn man sich als Leser mit Pauline auf ihre Reise begibt, versteht man auch, wieso. Pauline entdeckt verborgene Welten, dringt in Sphären vor, die bisher kein Mensch betrat, erlebt und sieht kaum Vorstellbares. Und bleibt dabei die kleine, große Heldin, eben "Fräulein" Pauline.
Daß dieses Buch vor Phantasie überbrodelt, ist schon am Einband erkennbar. Auf dem großformatigen, dunkelgrünen Hintergrund prangen knallige pinke Schleifenbänder mit Goldaufdruck, darin zu sehen ist eine selbstbewusste Pauline. Und ebenso phantastisch ist das komplette Buch illustriert. Großformatige Doppelseiten zeigen je eine Szene und beginnen in Paulines Zimmer, welches von Erwachsenensprechblasen beherrscht wird. Text wird hier zum illustrativen Element, denn auch auf den nächsten beiden Doppelseiten sind fast ausschließlich dominierende Textblöcke zu sehen, die Pauline in Versalbuchstaben antreiben: "WO HAST DU DEINE TASCHE? BEEIL DICH! ICH WARTE." Pauline wirkt zwischen diesen Textblöcken wie eingeengt, ganz klein macht sie sich und wehrt sich erst langsam, dann immer vehementer dagegen. Sie hält sich die Ohren zu, baut die Befehle in ihr Spiel ein oder singt dagegen an. Bis sie sich schließlich völlig davon befreien kann und hinaus in die Wolken entschwindet, der Beginn ihrer phantastischen Reise.
Der dafür gewählte Illustrationsstil ist mangaartig und japanisch inspiriert. Pauline besitzt große Augen und vereinfachte Gesichtszüge, die dennoch ihre Emotionen gut transportieren. Die Bildhintergründe sind detailreich und farbenprächtig und ermöglichen einen guten Stimmungsaufbau. Die grell pinken Elemente sind optische Magneten und lassen das Buch sehr lebendig wirken.
Eine Besonderheit sind zweifelsohne die aus den Seiten heraus gestanzten Elemente, durch deren Freiräume Beziehungen zu den vorherigen und folgenden Seiten aufgenommen wird. So fehlen einmal zwei Wolken, gibt es auf einer anderen Seite ganz und gar ein Loch in einer Wolken, durch das auf Bäume und Sträucher der folgenden Seite geschaut werden kann. Teilweise sind diese Aussparungen nicht nur innerhalb der Seite vorgenommen, sondern auch am Seitenrand, um die Illusion einer umgeknickten Ecke oder die eines Vorhangs zu erzeugen, der auf einer Seite noch Himmel und auf der nächsten Seite Paulines Fenstervorhang ist. Dieser spielerische Umgang mit dem Material setzt sich auch darin fort, dass für die Wasserszenen ein Pergamentpapier gewählt wurde. Hierdurch entsteht eine schöne Unterwassertransparenz, die Dinge scheinen hindurch, aber eben nur verschwommen und simulieren so hervorragend das Tauchgefühl.
Diese berauschende Reise besitzt das Potential, seine Betrachter ganz und gar zu vereinnahmen; Kinder können sich unversehens in den Illustrationen verlieren (und so mal wieder den ganzen Zeitplan durcheinander bringen) und Erwachsene sollten sich einen Ruck geben und sich auch auf diese Welt einlassen.
Fazit:
Ein phantastisches und besonderes Buch, das Eltern dazu ermutigt, sich auf die imaginäre Welt ihrer Kinder einzulassen und sich gemeinsam mit ihnen von der kindlichen Phantasie beflügeln zu lassen.
Deine Meinung zu »Die große Reise von Fräulein Pauline«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!