Wenn ein ganzes Hotel mitsamt Insassen um knapp 100 Jahre in die Zukunft geschleudert wird, geht so einiges drunter und drüber: Wieso sieht die Stadt so anders aus? Warum tragen Frauen statt feinen Röcken grobe Hosen mit Löchern? Und wieso kennt eigentlich niemand mehr seine Hoheit, den Kaiser? Kasmiranda, Jonni und Melusine machen sich zusammen mit Hängebauchsau Ingeborg, der Kaiserin von Indien, in ihre seltsam veränderte Stadt Rippelpolde auf, um das Geheimnis zu lüften. Und plötzlich dreht sich bei ihnen alles nur noch um die Wurst...
Wir schreiben das Jahr 1912: Kasmiranda Pompadauz, Tochter des Hotelbesitzers August Pompadauz, lebt gemeinsam mit ihm, einigen Angestellten und Gästen im Hotel "zur schönen Zeit" in dem netten Örtchen Rippelpolde. Kasmiranda ist von Kopf bis Fuß in schwarz gewandet und alles andere als ein liebes Mädchen: Ihre Freizeit verbringt sie damit, Käfer in ihrem schwarzen Notizbuch zu zerquetschen oder mit Hilfe von Kohlkopfpuppen die Enthauptungen berühmter Persönlichkeiten nachzuspielen. Kasmirandas bester Freund Johannes Ferdinand Adalbert Hinrich Flinthoff, kurz Jonni, ist auch kein unbeschriebenes Blatt. In seinem blauen Matrosenanzug, bewaffnet mit einer Steinschleuder und einem riesigen Handschuh erzählt er gerne die wildesten Geschichten darüber, wie seine drei Zahnlücken entstanden sind; eine haarsträubender als die andere.
An einem schönen Aprilnachmittag beschießen die beiden gerade den Hut einer feinen Dame mit Steinen, als aus heiterem Himmel ein riesiges Gewitter über den Hügel hinwegfegt, auf dem das Hotel steht. Und plötzlich ist alles anders: Als die Hotelinsassen nach dem Unwetter vor die Tür treten sieht ihr kleines Städtchen Rippelpolde völlig verändert aus. Vier große Schornsteine ragen plötzlich zwischen den Häusern hervor und am Horizont fliegt eine riesige, metallene Libelle vorbei. Eine Gesandtschaft bestehend aus August Pompadauz, Wachtmeister Knorpel im Dienste seiner Majestät des Kaisers, Chefkoch Jean-Pierre Currie und Hängebauchsau Ingeborg, Kaiserin von Indien, macht sich auf den Weg in die Stadt, um die ungewohnte Situation auszukundschaften. Jonni und Kasmiranda sind ihnen dicht auf den Fersen, um nichts zu verpassen. Sie werden von Melusine Appolonia Papenritt begleitet, Tochter der feinen Dame. In der Stadt angekommen, bestätigt sich der seltsame Eindruck von Rippelpolde: Fahrräder haben zwei gleich große Reifen, auf dem Marktplatz steht eine riesige Wurst statt der Statue des Kaisers und Briefkästen sind gelb statt blau. Als die Kinder eine Passantin nach der Farbe des Postkastens fragen, erwidert diese, sie sollten es "googeln"; aber was sie genau "kugeln" sollen, ist Jonni, Kasmiranda und Melusine schleierhaft.
Im Gemischtwarenladen treffen sich die Gesandtschaft des Hotels und die Kinder wieder. Dort wird ihnen schnell klar, was hier so falsch läuft: Auf einem Kalenderblatt sehen sie das aktuelle Datum des Jahres 2011! Zurück im Hotel stehen alle Bewohner ganz aufgeregt in der Eingangshalle und diskutieren die aktuelle Lage, kommen aber zunächst zu keinem Ergebnis.
In dieser Nacht können Jonni, Kasmiranda und Melusine nicht schlafen, denn auf dem Dachboden rumpelt und pumpelt es gewaltig und vor dem Hotel wandelt ein einäugiger Geist hin und her. Letzeren entlarven die drei schnell als Milford Maria Sennip, den Sohn des Wurstfabrikanten, den sie schon bei ihrer Erkundungstour durch Rippelpolde kennenlernten. Zu viert begeben sie sich nun auf den Dachboden, um auch dieses Rätsel zu lösen. Dort finden sie August Pompadauz, der in einem heillosen Durcheinander hin- und herflitzt. Kleinlaut beichtet er ihnen, dass er ein "Jahrfahrtskarussell" gebaut hat, das durch die Zeit reisen kann. Leider sind bei dem wilden Ritt im Gewitter einige Teile verloren gegangen. Eines der Teile, eine Wachswalze, vermuten sie im geheimen Wurstbunker der MMS-Enterprise (Manfred Michael Sennip). Da kommt niemand so schnell rein, weiß Milford, denn diesen lässt sein Vater Tag und Nacht streng bewachen. Um dort hineinzukommen müssen die Kinder noch einige Abenteuer bestehen: Da heißt es unter anderem Wurst essen, bis der Arzt kommt. Außerdem muss noch das größte Geheimnis des MMS-Enterprises gelüftet und einige Gefahren bestanden werden. Dabei ist Hängebauchsau Ingeborg von großer Bedeutung!
Seit H. G. Wells mit seiner "Zeitmaschine" das Genre der Zeitreisen begründete, gab es wohl noch keine so skurrile und lustige Erzählung auf diesem Gebiet wie Franziska Gehms Familie Pompadauz. Mit viel Einfallsreichtum und Witz erzählt sie eine Geschichte in der es rund um die Probleme von Zeitreisenden geht; und natürlich um die Wurst! Sie schildert dabei kindgerecht und eindrucksvoll, wie unbeholfen man sich vermutlich nach einem Zeitsprung von knapp hundert Jahren in einer völlig veränderten Zukunft fühlen würde. Dabei stehen vor allem Verständigungsproblem zwischen den Menschen aus Vergangenheit und (unserer) Gegenwart im Mittelpunkt. Franziska Gehm arbeitet hier sehr schön mit verschiedenen Sprachstilen, Wortwahl und Ausdruck, um den Kontrast zwischen den Personen der zwei Epochen hervorzuheben. Hierbei kommt es immer wieder zu Missverständnissen, die den Leser, der die gesamte Lage überblicken kann, immer wieder amüsiert schmunzeln lassen; wie z.B. die bereits erwähnte Verwechslung von "googeln" und "kugeln".
Natürlich sind, wie es sich für ein gutes Kinderbuch gehört, die Kinder die Helden der Geschichte. Dabei scheinen die drei Protagonisten aus der Vergangenheit ihrer Zeit voraus zu sein. Schon optisch passen Kasmiranda und Jonni nicht in das Bild des folgsamen und artigen Kindes um die Jahrhundertwende. Aber auch die kleine und vornehme Melusine hat es in ihrem weißen Spitzenkleidchen faustdick hinter den Ohren. Mit ihren Engelslöckchen, dem bezaubernden Lächeln und ihrem unwiderstehlichen Augenaufschlag wickelt sie jeden Erwachsenen um den kleinen Finger. Alle drei sind eigenständige und selbstbewusste Persönlichkeiten, die ihre Stärken zu nutzen und ihre Schwächen gut zu vertuschen wissen. Milford hingegen wirkt als Sohn des reichen Wurstfabrikanten der heutigen Zeit zunächst eher etwas unbeholfen. Von seiner Mutter wird er in seltsame und farbenfrohe Outfits gesteckt, die zum Teil sicher mit dafür verantwortlich sind, dass er keine Freunde hat. Doch Milford ist mutig und neugierig und so will er sofort herausfinden, warum die alte Ruine des Hotels auf dem Hügel plötzlich wieder wie neu erscheint.
Im Gegensatz zu den Erwachsenen verarbeiten die vier Kinder den Schock über die Zeitreise sehr gut und stellen sich schnell den neuen Herausforderungen. Während Wachtmeister Knorpel immer noch ständig von seiner Majestät dem Kaiser spricht, versuchen sich Melusine, Kasmiranda und Jonni an die neuen Gegebenheiten anzupassen und sich möglichst unauffällig zu verhalten. Und auch Milford wächst an seinen neuen Aufgaben, indem er alle Vorteile der modernen Zeit sowie den Reichtum und die Bekanntheit seines Vaters für die Suche nach der Wachswalze nutzt. Gemeinsam sind die vier ein tolles Gespann und überwinden in der Gruppe sogar ihre Ängste. Franziska Gehm zeigt hier sehr schön, dass Freundschaft nichts mit Status, Kleidung oder sonstigen Äußerlichkeiten zu tun hat, sondern dass sie von Herzen kommt und sogar über mehrere Epochen hinweg bestehen kann.
Neben Kasmiranda und Co. finden sich noch viele weitere einprägsame Charaktere, die alle sehr detailreich und liebevoll beschrieben werden und die Geschichte somit beleben. Vor allem das Zusammenspiel der verschiedenen, teilweise sehr impulsiven Persönlichkeiten gibt der Handlung Tiefe. Leider kommt man teilweise etwas durcheinander, wer denn nun wer ist. Doch die Autorin löst dies geschickt, indem sie meist ein charakterisierendes Wort, wie etwa den Beruf, an den Namen anfügt, z.B. Wachtmeister Knorpel oder Hoteldirektor August Pompadauz.
Insgesamt schafft Franziska Gehm eine kreative und mitreißende Geschichte, die keine Sekunde langweilig ist. Sie erzeugt einen schönen Spannungsbogen mit mehreren Wendungen, der die Protagonisten immer wieder vor neue Herausforderungen stellt und den Leser ans Buch fesselt. Mit ihrer ausgefallenen und eigentümlichen Geschichte bringt die Autorin den Leser immer wieder zum Lachen. Da ist unter anderem die Namensgeberin und Kaiserin von Indien, Hängebauchsau Ingeborg, zu nennen. Eigentlich macht sie nichts anderes als fressen, schlafen und pupsen, aber alle sehen sie als außergewöhnliche Persönlichkeit an und messen ihren diversen Körpergeräuschen bei Entscheidungen große Bedeutung bei. Dabei nehmen sie die entstandenen Dämpfe würdevoll hin. Aber auch das riesige Wurstimperium und die Allgegenwärtigkeit der Wurst sorgen für anhaltendes Amüsement (und teilweise auch für leichte Hungergefühle beim Lesen).
Besonders bizarr und ungemein komisch ist ein völlig losgelöster Einschub, der darüber berichtet, wie der Außerirdische Slupodo Xÿpp auf dem Planeten OvbId in der Galaxie Blubblebrix gerade die Kieselborsten seines Vorgarten harkt und sich wundert, dass am grün-lila gepunkteten Himmel das Hotel "zur schönen Zeit" vorbeifliegt.
Familie Pompadauz und das pupsende Hängebauchschwein ist der erste Band einer Reihe, der unbedingt Appetit auf mehr macht. Neben der Wachswalze müssen noch weitere Teile für das Jahrfahrtskarussell besorgt werden und außerdem ist eine neugierige Bewohnerin von Rippelpolde auf die neu erblühte Hotelruine aufmerksam geworden und will der Sache auf den Grund gehen. Bleibt zu hoffen, dass eine weitere Geschichte in der Stadt der Würste genauso einfallsreich und spannend wird!
Fazit:
Familie Pompadauz und das pupsende Hängebauchschwein ist ein rundum gelungenes Buch mit vielen Wendungen, tollen Charakteren und einer etwas abgedrehten, aber gerade deshalb so originellen Handlung. Mitreißend und spannend bis zu letzten Seite verspricht dieses Buch pures Lesevergnügen.
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