Für die große Schwester ist der jüngere Bruder nur der "Nervzwerg" und für den kleinen Bruder ist sie die "Superschlaue". Selten sind sie sich einig, doch wenn es sein muss, halten die beiden Geschwister zusammen wie Pech und Schwefel.
Luis, der "Kleine", beklagt sich, dass seine große Schwester immer alles besser weiß. Und Amanda, die "Große", findet ihren kleinen Bruder oft nur nervig. Auch wenn er hundert Jahre alt würde, wäre sie immer noch zwei Jahre älter als er und wisse immer noch besser über alles Bescheid. Außerdem, behauptet Amanda, wisse sie immer was "Lu" gerade denkt. Darüber kann Lu allerdings nur lachen.
Judy Blume lässt ihre beiden Protagonisten abwechselnd - nämlich ganz auf ihre Weise - erzählen. Natürlich glauben beide, dass die Eltern den jeweils anderen lieber hätten. Das ist ja normal. Und ebenso klug wie lebensnah erzählt sie aus Sicht "der Superschlauen", von dem Wackelzahn ihres kleinen Bruders, der ausgerechnet im Schulbus ausfallen muss. Lu verspricht ihr die Hälfte dessen, was die Zahnfee bringt, wenn sie seinen Zahn nur diesen Vormittag lang in Obhut nimmt. Nun ist die große Schwester nicht so tough wie sie immer vorgibt. Ständig überprüft sie, ob der Zahn noch da ist. Sie ist heilfroh, als sie den Zahn wieder an ihren Bruder zurückgeben kann. Doch der muss ihn erst einmal stolz einer ganzen Reihe Freunde zeigen. Am Abend ist der Zahn verschwunden. Amanda kann es nicht fassen: Dafür hat sie einen Schweißausbruch nach dem anderen durchgestanden? Lu kann Amanda überreden, der Zahnfee einen Brief zu schreiben; schließlich bekommt sie ja auch die Hälfte des Zahnfee-Geschenks. Was am Ende mit dem Fünfdollarschein passiert, der am nächsten Morgen unter Lus´ Kopfkissen liegt, kann man sich ja vorstellen, zumindest wenn man Lu besser kennt.
Und das werden wir schon in der nächsten Geschichte, als Lu erzählt, wie er von einem Jungen an seiner Schule geärgert wird. Stolz nimmt Lu seine Lupe mit zur Schule, die ihm aber "Die matschige Frühlingsrolle", Billy Miller, wegnimmt. Obwohl Amanda selbst neidisch auf die schöne Lupe ist, setzt sie sich wild entschlossen für ihren Bruder ein und kann am Ende erreichen, dass Lu seine Lupe zurückbekommt . Aber nicht nur das, dieser Junge wird Lu nie wieder ärgern, dafür hat Amanda gesorgt. Keine Frage: Lu ist sehr stolz auf seine große Schwester. Gar kein Verständnis hat Lu dagegen für Amandas Leidenschaft, dem armen Lucas in der Schule hinterher zu jagen. Sie ist damit nicht allein, eine ganze Horde Mädchen heftet sich dann an die Fersen des flüchtenden Jungen. Sie machen das, weil sie Lucas toll finden. Auch Amanda findet ihn toll - und Lucas findet Amanda toll, aber das können sie natürlich nicht zugeben.
Sehr eigenwillig ist auch Amandas plötzliche Laune, ihren Namen in "Iris Jasmin" zu ändern. Lu, der den neuen Namen natürlich prompt und mit viel Schadenfreude verwendet, wird wohl geahnt haben, dass dieser Namenswechsel zu einer ziemlich anstrengenden Sache wird. Und so ist es auch. Am Ende möchte Amanda doch wieder ihren alten Namen zurückhaben und geht gestärkt aus ihrer Identitätskrise hervor. Gestärkt geht auch Lu aus dem Schulklassenprojekt, dem "Frü-strücks-Café", hervor. Und das, obwohl Amanda einen ziemlich zickigen Gast mimt. Doch Lu meistert den Job als Kellner mit Bravour und hat am Ende sogar gelernt, dass in "Frü-strücks-Café" ein "r" zuviel ist.
Auch "Fluffi", der Kater, kommt zu Wort. Der wünscht sich nämlich einen anderen Namen und weiß nicht, wie er es seinen Menschen beibringen soll, denn anscheinend können sie doch nicht seine Gedanken lesen.
Besonders schön aber ist die Geschichte mit Mr. Soupy, dem Friseur. Lu hat furchtbare Angst, dass ihm beim Haareschneiden die Ohren abgeschnitten werden könnten und so erscheint er mit Ohrenwärmern - und das mitten im Sommer. Erst als Amanda die rettende Idee hat, ihrem Bruder "magische" Pappohren anzukleben, ist er bereit, sich seine Mähne schneiden zu lassen. Lu ist seiner Schwester von Herzen dankbar und froh, dass er Amandas Bruder ist. Doch da geht das Wortgefecht der beiden auch schon wieder los. Sticheleien sind bei den beiden an der Tagesordnung aber manchmal führen sie auch zu etwas, denn als Lu die Lust am Fußballspielen verliert, weil er nur im Tor spielen soll, bringt ihn Amanda mit ihren bohrenden Fragen auf die richtige Fährte.
Dass Amanda etwas nicht weiß oder kann, ist für sie selbst fast unvorstellbar. Und genau das ist ihr Problem. Denn sie kann immer noch nicht Fahrradfahren. Um das zu verbergen, lässt sie sich allerlei "Notlügen" und Tricks einfallen. Lu findet, dass sie ihre Freundinnen anlügt. Ihre Mutter meint aber, dass Amanda ihren Freundinnen eher etwas vorspielt. Doch Lu kann zu keinem anderen Schluss kommen und zieht seine große Schwester damit gehörig auf. Und vielleicht bewegt sie genau das dazu, ihre Freundin anzurufen und ihr endlich die Wahrheit über sich und das Fahrradfahren zu sagen.
Am Ende lernt Amanda - dick gepolstert - doch das Fahrradfahren, muss hinnehmen, dass ihre ganz und gar rosafarbene Pyjama-Party ausfällt und verkraften, dass ihre Tante nicht das Baby, sondern die betagte Hündin "Olive" ein paar Tage bei ihnen lässt. Da der Hund ziemlich streng riecht, nimmt sich Lu kurzerhand der alten Dame an und versucht, ihr mit seiner Zahnbürste die Zähne zu putzen und sie mit Kokos-Shampoo zu baden. Doch Olive ist nicht nachtragend und ihr Frauchen findet sowieso, dass sie ganz wunderbar riecht.
Die amerikanische Erfolgsautorin Judy Blume zeigt mit "Luis und Amanda", dass sie ziemlich gut weiss, wie Kinder "ticken". Sie schildert ihre Nöte und auch ihre Freude über so viele kleine Dinge, die auf den ersten Blick wie alltägliche Kleinigkeiten wirken, aber bei genauerem Betrachten, wichtige Punkte in der Entwicklung der Kinder darstellen. Es ist keine neue Erkenntnis, dass sich Geschwister in einem nicht unbeträchtlichen Maße gegenseitig erziehen. Bei Luis und Amanda kann man das wunderbar beobachten. Wie Kinder nun mal sind, nehmen sie auch nichts allzu ernst. Und wenn es einmal etwas sentimentaler wird, finden sie immer schnell zu ihrer "alten Form" zurück. In bestimmter Hinsicht weiß Amanda vielleicht wirklich was ihr Bruder denkt, denn in so vielen Momenten zeigt die kleine Kratzbürste ihrem Bruder, dass sie ihn versteht und für ihn da ist. Sei es die Rettung seines Lieblingsschmusetiers, das von einem ziemlich ungestümen Hund "verletzt" wird, oder ihr Einfallsreichtum zu Lu´s Friseur-Phobie. Dabei lässt es sich die große Schwester nie nehmen, entsprechende Bemerkungen über ihren Bruder fallen zu lassen. Sie zieht ihn auf, dass er auf dem Ohr seines geliebten Kuscheltieres herumkaut und weiß zu vermelden, dass ihr Bruder eine ziemlich große Macke hat, da er, neben Ohrenwärmern im Sommer, ein Faible für weißes Essen hat. Lu tut das beste, was ein kleiner Bruder in dieser Lage machen kann - er nutzt jede Gelegenheit, sich über seine überhebliche Schwester schlapp zu lachen. Das macht ihn überaus sympathisch und für seine Schwester unangreifbar.
Kinder, die selbst Geschwister haben, können sich hervorragend mit Luis und Amanda identifizieren und lauschen den Schilderungen der beiden gebannt. Die Sprache von Judy Blume ist knapp und witzig. Mit ein paar trockenen Bemerkungen bringt sie die Dinge wunderbar auf den Punkt. Es gelingt ihr, auch über die Sprache die jeweiligen Charakterzüge deutlich hervortreten zu lassen. Aber auch Eltern werden ihre helle Freude an den Geschichten von Luis und Amanda haben. Denn im besten Falle hilft uns der humorvolle Blick von Judy Blume, die täglichen Streitereien der eigenen Kinder mit etwas mehr Gelassenheit zu sehen. Vielleicht kann man hier vom "Bill-Cosby-Effekt" sprechen, der berühmten TV-Familien-Serie, bei der hinterher die Zuschauer, nämlich die eigenen Familieangehörigen, viel entspannter waren.
Die Illustrationen von Karsten Teich zu den Kurzgeschichten sind humorvolle und leichte Begleiter. Schon das Coverbild weckt Vorfreude auf das Geschwisterpaar. Im Innenteil finden wir einige freigestellte s/w-Strichzeichnungen, die die wichtigsten Ausschnitte der Geschichte zeigen. Mit wenigen Strichen verleiht Karsten Teich seinen Darstellern ein lebendiges Minenspiel. Besonders schön finde ich die Illustration, die zeigt, wie Lu versucht, dem Hund Olive die Zähne zu putzen. Der arme Hund schaut nur verdutzt und man ahnt, aufgrund kleiner Schlangenlinien die vom Rücken des Hundes aufsteigen, wie "besonders" dieser Hund "duftet". Zu Anfang eines jeden Kapitels ist das Gesicht eines der Geschwister vorangestellt, je nach dem, wer gerade erzählt.
Und das machen sie gerne - und zwar ganz auf ihre, sympathische Weise. Natürlich hat Lu, wie so oft im wahren Leben, ein paar Bonuspunkte, weil er einfach niedlich ist und die Unterstützung seiner großen Schwester dankbar annimmt. Die wiederum tut so, als mache sie ihren Job, vergisst aber nicht, dass das auch Vorteile für sie haben kann. Und so verschwindet am Ende Lu´s Lupe in ihrer Schublade und das neue "Ersatzschmusetier" darf sie auch behalten. Sie schenken sich also nichts, die beiden; und doch gehen sie fair miteinander um und scheinen sogar am Streiten ihren Spaß zu haben. Auch Fluffi versteht ihre kleinen Scharmützel genau so. Mit Freuden stürzt er den beiden Streithähnen hinterher - das ist sein Lieblingsspiel. Und während Fluffi sich beeilt, ihnen auf den Fersen zu bleiben, verabschieden wir uns von Luis und Amanda und sind beinahe traurig, dass wir nicht länger bei ihnen sein können.
Fazit:
Ein köstliches Buch über die wahre Geschwisterliebe. Judy Blume trifft den Ton der beiden Geschwister perfekt und überzeugt durch ihre lebendige Erzählung. Unbeschwert und doch mit leisen Zwischentönen, herzerfrischend und überaus unterhaltsam - ein wunderbares Buch für die ganze Familie!
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