Phantastasia oder die lustige Geschichte über die Traurigkeit
- Ueberreuter
- Erschienen: April 2010
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Aitätrebup! So einfach heißt die Lösung auf die Probleme, Schwierigkeiten und Traurigkeiten, die Hannibal in letzter Zeit durchleben muss. Hannibal muss sich eingestehen: nur wer seine Schwächen kennt, kann stark sein. Doch manchmal ist gerade das Naheliegendste so fern...
Herr Sauerbraten traut seinen Augen kaum, als er die Eingangstür aufsperrt. Sämtliche Wände und Möbelstücke sind bekleckst und bemalt mit bunten Farben! Ein rotes Strichmännchen mit grünen Haaren auf dem Kleiderkasten, eine grüne Sonne auf der Pendeluhr, das Klo in bananengelb! Wutentbrannt schreit aus vollem Leib und befiehlt damit seine drei kaffeebraunen Dackel herbei, die sich winselnd aus ihrem Versteck wagen. Sie hatten es doch nur gut gemeint und wollten die Wohnung freundlicher gestalten... Der dicke Herr Sauerbraten findet das allerdings alles Andere als lustig. Doch bevor er seinen Dackeln eine Strafe erteilen kann, klingelt es an der Tür. Davor steht die Nachbarin Fräulein Bindfaden. Kurz angebunden bittet sie Herrn Sauerbraten, ihren neuen Schützling, einen Jungen mit traurigem Gesicht und langen blonden Haaren, aufzupassen: Fräulein Bindfaden macht dem Beruf als Kinderheimbetreuerin nicht gerade Ehre. Schnell ist sie wieder verschwunden und lässt Hannibal zurück.
Hannibal hat ein schweres Leben. Vor kurzem hat er seine Eltern verloren. Seitdem wird er von einer großen Traurigkeit verfolgt. Bei diesem erbarmungswürdigen Anblick entschließen die Dackel, Hannibal zu helfen und ihn von seinem Kummer zu erlösen. Wackel, Schnackerl und Marie Therese von Wurmbrand-Stupsnas-Hohensinn (sie legt Wert auf ihren damenhaften Namen!) wollen mit ihm zur großen Zauberin von Phantastasia gehen. Sie allein weiß, wie man den Schleier der Traurigkeit von einem Jungen wie Hannibal nehmen kann. Aber der Weg nach Phantastasia ist voller Hürden. Und überhaupt: Wo liegt eigentlich Phantastasia?
Auf ihrer verzweifelten Suche begegnet ihnen schließlich ein fetter Kater, der ihnen mit Vorwarnung den undurchsichtigen Weg erklärt. Und nachdem sie allerhand merkwürdige Wesen kennen gelernt haben, schaffen sie es tatsächlich, zum mächtigen Schloss der Zauberin zu gelangen. Doch an der Eingangspforte gibt es schon den großen Rückschlag: Es erhält nur derjenige Einlass, der den Namen der Zauberin kennt! Und um diesen heraus zu finden, müssen sie für jeden der zehn Buchstaben eine Aufgabe erfüllen. So brauchen sie z.B. eine Kranzwurst von Metzger Sulz, müssen sich ins Fernsehparadies begeben, Buchstabe Nummer 8 finden sie in der Disko B3, für die Nummer 9 muss Hannibal ein Mädchen mit Sommersprossen küssen, 10 steht im Spiegel der Gesellschaft. Ganz schön kompliziert... Doch mit Ehrgeiz, Mut und einer großen Portion Kombinationsgabe schaffen die vier Freunde es zum Schluss, alle 10 Buchstaben zu sammeln und zum Schloss zurückzukehren.
Franzobel erzählt mit Phantastasia eine fantasiereiche Geschichte, die von einer großen Portion Heiterkeit und Witz getragen wird. Hannibals Trauer wegen des Verlustes seiner Eltern scheint ausweglos, doch von Beginn an lassen die drei Dackel keine traurigen Gedanken zu und richten ihren Blick nach vorn. Auf diese Weise mitgerissen, begibt sich auch der Leser auf die Reise voller Abenteuer.
Der Leser wird auf detaillierte Weise mit den Charakteren des Buches vertraut gemacht. Allein die Namensgebung der verschiedenen Charaktere vermittelt direkt eine bildliche Vorstellung der verschiedenen Typen. Zudem werden sie ausführlich, wenngleich auch klischeehaft, beschrieben, so dass sich der Leser die verschiedenen Typen bestens vorstellen kann: Herr Sauerbraten mit seinem dicken Bauch, der an eine ganze Lastwagenladung Wassermelonen erinnert, dazu ein langer weißer Bart. Fräulein Bindfaden wird mit ihrer Marzipankartoffel am Hinterkopf, ihrem Tomatenkopf mit messerscharfen Lippen und dazu passender Zwiebelringe-Brille wird als unliebsame Person dargestellt. Auch die drei Dackel werden mit einzigartigen Rollen bedacht. Ihre Fähigkeit zu sprechen, macht sie zu ganz ungewöhnlichen aber liebenswerten Wegbegleitern und dient zugleich als "Medium" zur fantastischen Welt. Besonders Schnackerl hat bei Aufregung viele Wortversprecher und verdreht allerlei Buchstaben. Somit wird die Suche nach dem Namen der Zauberin zu einer unterhaltsamen Reise, die jede Menge lustige Aktionen bereit hält.
Franzobel gelingt es, eine durchgehend anregende und lehrreiche Leseatmosphäre zu schaffen. Besonders motivierend für den Leser ist es, dass vielfach erst nach dem Weiterlesen entschieden werden kann, ob die lustigen Situationen real oder in der Fantasiewelt von Hannibal und der drei Dackel passieren. An einigen Stellen treffen sie erneut auf Fräulein Bindfaden und Herrn Sauerbraten. Aber die weiteren skurrilen Personen, gibt es sie wirklich? Es scheint, als ob sich Hannibal auf der Reise nach Phantastasia aus seiner realen Welt herausträumt und dabei sein eigentliches Problem, den Verlust seiner Eltern, für einen Augenblick vergisst. Die Aufgaben helfen ihm, persönliche Stärken und Schwächen zu entdecken. Hinter all den Taten erkennt der junge Leser außerdem, dass Hannibal an diesen Aufgaben wächst und zunehmend mutiger und offener wird. Seine Traurigkeit verblasst.
Die Lösung aller Probleme scheint selbst für den erwachsenen Leser unerwartet: Die pubertäre Phase als ständige Entwicklung mit allerlei Problemen und Aufgaben, die unlösbar scheinen, aber der Schlüssel zu Hannibals Verfassung sind. Für manchen Leser werden mit diesem Geschichtenende sicherlich einige Fragen nach der eigenen Entwicklung aufgeworfen, andere werden es dankbar als Erklärung annehmen und sich in einigen Situationen noch stärker wiedererkennen.
Dennoch bleibt mit diesem Buchende offen, welche emotionale Entwicklung sich bei Hannibal vollzogen hat. Der Schmerz über den Verlust seiner Eltern kann durch den natürlichen Prozess des Erwachsenwerdens nicht gestillt werden. Franzobel lässt dem Leser allerhand gedanklichen Spielraum, welchen Stellenwert die Erkenntnis der pubertären Abläufe für sein Gesamtbefinden hat. Es bleibt zu wünschen, dass Hannibal hierdurch Mut und Zuversicht für sein gesamtes Leben erhalten hat.
Fazit:
Franzobel gelingt es, den Leser an Hannibals Entwicklungsprozess teilhaben zu lassen und ihn auf Gedankenreise zu schicken. Er entführt uns in eine Fantasiewelt, die Hannibal als Flucht aus seiner traurigen Wirklichkeit dient. Seine Erlebnisse helfen ihm, sich der realen Umwelt wieder öffnen zu können. Mit psychologischem Feingefühl erzählt Franzobel von dem Übergang vom Kind- zum (vorzeitigen) Erwachsensein und zieht dazu das Gleichnis der fließenden Übergänge zwischen realer und fantastischer Welt heran.
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