Rührend, komisch und spannend zugleich
Ein kleiner Junge und ein großes Problem: Papa holt ihn nicht vom Kindergarten ab und Zuhause ist auch niemand. Wieder einmal verwandelt der schwedisch Autor Ulf Nilsson ein "Drama" in eine warmherzige Alltagsgeschichte - über Dinge, die wirklich so passieren könnten und darüber, was man dann alles unternehmen müsste...
Der Ich-Erzähler, ein kleiner Junge um die fünf Jahre, steht vor der Tür des Kindergartens. Er hat gerade die Uhr gelernt und weiß, dass er immer um drei Uhr abgeholt wird. Doch weit und breit ist kein Papa in Sicht. Besorgt geht der Junge nach Hause. Aber auch dort ist keine Mama und kein Papa anzutreffen. Die Tür bleibt verschlossen. Er denkt nach und schlussfolgert ganz klar "Bestimmt waren meine Eltern tot. Irgendwas war passiert, vielleicht hatte ein Laster sie überfahren." Dann fällt ihm sein kleiner Bruder ein; in einem unbeobachteten Moment holt er den kleinen Kerl aus dem Kindergarten. Vorsichtig versucht er seinen kleinen Bruder auf die schlimmen Umstände vorzubereiten. Doch der schaut nur erstaunt, als unser kleiner Held zu weinen beginnt.
Da sie ja nun auch kein Zuhause mehr haben, bauen sie sich aus Zaunbrettern im Garten eine wackelige Hütte. Es gibt keine Nägel und keinen Hammer. Doch die Jungen sind findig und schlagen die Bretter in den weichen Erdboden. Mit Laub wird ein Bett gebaut und weil der kleine Bruder zu dieser Tageszeit immer fernsieht, baut der große Bruder aus einen Karton einen Fernseher - sogar mit aufgemalten Knöpfen und einer Antenne aus Ästen. Jetzt fehlt nur noch der obligatorische Keks zum nachmittäglichen Programm. Die Möhren aus dem Gemüsebeet möchte er auf jeden Fall nicht. Schließlich bekommen sie den Nachbarn dazu, ihnen in einer Schüssel alle Zutaten für einen Kuchenteig zusammenzukippen - und schlecken ihn, nach heftigem Rühren mit einem Stock, vergnügt aus der Schüssel. Die beiden Brüder haben Spass. Der Große macht für den Kleinen nun das Fernsehprogramm und spielt einen Pinguin. Doch dann muss unser tapferer großer Bruder weinen, weil er daran denkt, wie gut es ist, dass sein kleiner Bruder noch nichts von ihrem schlimmen Schicksal ahnt. Der Kleine will ein anderes Programm. Der große auch.
Einerseits ist das Handeln des kleinen Helden ja absolut logisch - den Eltern hätte ja wirklich etwas passiert sein können - andererseits zeigt sich auf geradezu komische Weise, wie der Spieltrieb und der Wunsch, die Dinge einmal selbst in die Hand zu nehmen, Oberhand gewinnen. Einmal der Idee verfallen - am Ende steht für den Jungen sogar fest, dass es ein roter Lastwagen war, der die Eltern überfahren hat, und über das Eis geschlittert ist - kommt er gar nicht auf die Idee, dass etwas ganz anderes der Grund für das Ausbleiben der Eltern haben könnte. Dies hat sich Ulf Nilsson sehr gut von den Kindern "abgeguckt".
Wie in seinem Buch "Die besten Beerdigungen der Welt" beleuchtet Ulf Nilsson die Welt ganz aus der Perspektive der Kinder. Fasziniert folgen die kleinen Mitleser auch dieser Geschichte - mit einer Mischung aus Empathie und erwartungsvoller Neugier. Die Situation, die Ulf Nilsson ihnen hier zeigt, kennen sie selbst nur zu gut und sie werden sich sicherlich im Verlauf der Geschichte so manche Frage stellen. Die Angst vor der Verlassenheit, die der schwedische Autor hier aufgreift, ist im Leben eine unvermeidbare Zäsur. Daran ist nichts zu ändern und sie bleibt bis in das Erwachsenenalter ein tief sitzendes Gefühl. Doch Ulf Nilssons Art der Umsetzung, mit diesem humorvollen und spielerischen Unterton, hilft Kindern, ihre Balance zu finden. Eine Balance, die es möglich macht, mit dem Thema kindgerecht umgehen zu können. Und das ist es auch, was den Kern dieser Geschichte ausmacht: Nilsson dramatisiert nicht, er stülpt seinen kleinen Helden nicht die Sichtweise der Erwachsenen über. Er will seine kleinen Leser nicht traurig machen. Durch den Blick eines Kindes erzählt er ihnen wie es war, als der kleine Junge allein auf der Welt war - wenn auch nur für ein paar Stunden.
Es bleibt ein Spiel. Ganz darin gefangen, werden Fantasiegespinste zur bitteren Wahrheit und das "Überleben" bis zum Abitur zu einem Spiel. Irgendwo in der Mitte trifft der kleine Junge immer wieder auf die Realität, nämlich dann, wenn ihm klar wird, dass das Spiel ganz schön mühselig wird.
Wieder gehen die Illustrationen von Eva Eriksson eine perfekte Verbindung mit dem Text ein. Ihre Bilder sind hier in kühlen, zurückhaltenden Farben gehalten. Die winterliche, frostige Atmosphäre, die sich in der kahlen Natur und den weißen, typisch skandinavischen Holzhäusern zeigt, ist regelrecht spürbar und unterstreicht die Einsamkeit der beiden Knirpse. Die jedoch leuchten in dieser kahlen Umgebung mit roten, warmen Farbakzenten umso mehr. Es ist verblüffend, wie Eva Eriksson den Gesichtern ihrer beiden Helden so viel Ausdruck verleihen kann. Besteht das rundliche Gesicht doch - eigentlich - nur aus einer kleinen Stupsnase, einem schmalen Strich als Mund, zwei Punkten als Augen und zwei sehr lebhaften Augenbrauen. Auf den so schön rundlichen Wangen der Kinder liegt ein leichtes Rosa und fast meint man, die kleinen Atemwölkchen in der kalten Luft zu sehen.
Ulf Nilsson erzählt keine Geschichten die traurig enden, obwohl er einiges zurücklässt, das nachdenklich macht. Die Auflösung dieser Geschichte ist sozusagen "klassisch". Wie so häufig im Kinderleben, basieren die Geschehnisse auf einem ganz einfachen Missverständnis. Wer käme auch schon auf die Idee, jemand anderen nach der Uhrzeit zu fragen, wenn er doch nun selbst die Uhr lesen kann? Ulf Nilssons so alltagsnahe Geschichte hinterlässt ein wohltuendes Gefühl der Geborgenheit und transportiert dies am Ende durch die liebevolle Zuwendung der Eltern. Die tauchen nämlich genau im richtigen Moment auf, dann nämlich, als unser Held das traurig-spannende Spiel gar nicht mehr so toll findet. Da die Welt der beiden Brüder schon im nächsten Moment wieder in allerbester Ordnung ist, sind auch die Umarmungsversuche der Eltern gar nicht mehr notwendig.
Fazit:
Ulf Nilsson versteht die Seele der Kinder wie wohl kaum ein anderer Bilderbuchautor. Mit Ernsthaftikgeit und einer wohltuenden Prise trockenen Humors trifft "Als wir allein auf der Welt waren" genau ihren Nerv. Rührend, komisch und spannend zugleich, spricht es Kinder direkt an und lädt sie auf spielerische Weise ein, sich auf ein beängstigendes Thema einzulassen - und das, ohne Angst zu machen.
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