Coraline fühlt sich einsam. Die Eltern arbeiten, kein Kind wohnt in der Nähe und gekocht wird nach langweiligen Rezepten, die der Vater ausprobiert. Um sich die Zeit in den Ferien zu vertreiben, geht das Mädchen auf Entdeckungstour. Eine bestimmte Tür hat es ihr in ihrem neuen Zuhause besonders angetan. Als sie jedoch den Schlüssel findet und in den Raum, der angeblich leer stehenden Wohnung eintritt, erwartet sie eine grausige Überraschung.
Die elfjährige Coraline Jones ist mit ihren Eltern in das alte riesige Haus unweit von London gezogen. Ihre Nachbarn sind zwei alte Schauspielerinnen, Mrs Spink und Mrs Forcible, die ihre Hunde umsorgen und in ihrer eigenen Welt leben. Ein alter verrückter Mann wohnt ebenfalls in dem verbauten Haus. Er trainiert angeblich einen Mäusezirkus. Coralines Sommer ist ziemlich verregnet. Als alle Bücher ausgelesen sind, das Fernsehprogramm nur nervt, durchsucht das Mädchen die Wohnung. Ihre Eltern darf sie sowieso nicht stören. Sie arbeiten an ihren Computern und hoffen, dass das Mädchen den Nachbarn auf den Wecker fällt. Ein Kater schleicht ums Haus, doch wenn Coraline sich ihm nähert, verschwindet er. Coraline langweilt sich. Ihr Vater rät ihr, sie solle doch Stepptanz lernen. Ihr bleibt nichts anderes übrig als wieder bei den alten Damen anzuklopfen, wenn sie Gesellschaft haben möchte. Die Frauen lesen Coraline die Zukunft aus den Teeblättern und ahnen nichts Gutes. Gegen die drohende Gefahr schenken sie ihr einen kleinen Stein mit einem Loch in der Mitte. Als Carolines Mutter zum Einkaufen in die Stadt fährt, entdeckt das Mädchen den richtigen Schlüssel für die verborgene Tür, die sie schon lang im Visier hat. Dieses Mal versperrt auch keine Backsteinmauer den Eingang. Angeblich führt diese Tür in eine leer stehende Wohnung. Doch plötzlich entdeckt Coraline, dass in dieser Wohnung alles spiegelverkehrt zu ihrer eigenen Wohnung existiert, bis hin zur Einrichtung und den Bewohnern.
Und noch eine Überraschung verblüfft das Mädchen. Ihre andere Mutter stellt sich vor und ihr anderer Vater. Sie ähneln ihren wahren Eltern verblüffend, tragen allerdings Knopfaugen und lächeln ständig. Coralines andere Eltern wenden sich voller Liebe ihrer Tochter zu. Es gibt ein wunderbares Essen, ein tolles Zimmer mit originellem Spielzeug und viel, viel Aufmerksamkeit. Die beiden anderen alten Damen treten in ihren Berufen als Schauspielerinnen im Zirkus mit Hundepublikum auf. Coraline ist zuerst überrascht und auch hingerissen von ihren anderen Eltern, aber nach und nach behagt die künstlich freundliche Atmosphäre ihr nicht mehr. Die anderen Eltern versprechen dem Mädchen ein geborgenes Leben, wenn sie sich dazu entschließt, ihre Augen gegen Knopfaugen zu tauschen. Coraline lehnt ab, muss dann aber feststellen, dass ihre echten Eltern verschwunden sind. Angeblich, so die andere Mutter, hätten sie kein Interesse an ihrer Tochter. Das Mädchen jedoch sieht ihre echten Eltern im Spiegel und liest spiegelverkehrt das Wort: Hilfe! Die andere Mutter hat sich des Elternnapping schuldig gemacht. Auch wenn Coraline die Polizei anruft, niemand steht ihr bei. Sie muss mutig sein und ihre Eltern retten. Der Kater, der plötzlich in der anderen Welt sprechen kann, gesellt sich zu Coraline, betont allerdings seine absolute Eigenständigkeit. Das Mädchen erinnert sich an ein Erlebnis mit ihrem Vater und weiß, nur wer seine Angst überwindet, wird siegen.
Coraline geht wieder durch die Tür in die andere Knopfwelt. Da der andere Vater allein ist, versucht das Mädchen ihn auszufragen. Die andere Mutter hat alles gemacht, so erzählt er - das Haus, das Grundstück und die Leute im Haus. Ihr geschaffenes Universum hat aber keine Struktur. Die Ratten sind ihre Spione. Als die andere Mutter zurückkehrt, versucht sie Coraline von ihrer Liebe zu überzeugen. Das Mädchen jedoch weiß, Liebe kann man nicht erzwingen. Als die andere nun bereits wütende Mutter Coraline in den Spiegelschrank einsperrt, fühlt das Mädchen plötzlich, dass sie nicht allein ist. Drei Kinder, ihre Überreste als Geister, hausen in dem kleinen Raum. Sie bitten Coraline, dass sie ihnen ihre Herzen und Seelen, die die andere Mutter ihnen genommen hat, zurückholen, damit sie sterben können. Offensichtlich ernährt sich die andere Mutter von Kindern. Immer schauriger wird die Atmosphäre, die Neil Gaiman beschreibt. Coraline schlägt der nicht mehr so liebevollen Mutter, die plötzlich immer größer wird, ein Entdeckungsspiel vor. Sie sucht die Seelen der Kinder und ihre Eltern und wenn sie diese findet, lässt die andere Mutter alle frei. Sollte Coraline gewinnen, ist sie frei. Das muss die andere Mutter bei ihrer Hand schwören. Gewinnt sie, dann bleibt Coraline für immer bei ihr und erhält Knopfaugen. Coraline ist ziemlich hilflos, denn sie hat keine Ahnung, wo sie suchen soll. Die andere Mutter lächelt hämisch, denn sie fühlt sich bereits als Siegerin. Da kommt Coraline auf die Idee, durch ihren Stein zu blicken und schon erscheint alles grau, nur die Seelen blinken wie farbige Murmeln.
Im Laufe des Horrors erkennt Coraline, dass die andere Mutter nichts erschaffen kann, sondern umwandeln, verzerren und verändern. Nichts ist echt. Als die andere Mutter bemerkt, dass Coraline durchaus in der Lage ist, dieses Spiel zu gewinnen, macht sie ihr Versprechungen. Doch Coraline will nicht, wie die anderen Kinder, alles besitzen, was sie sich wünscht. Sie ist klug genug zu wissen, dass es kaum Spaß macht, wenn man alles, was man begehrt auch bekommen kann. Ihr echtes Leben ist mehr Wert als künstliche Welten. Coraline erkennt auch, wo ihre Eltern sind. Sie trickst die andere Mutter mit Hilfe des Katers aus und schnappt sich Mutter und Vater, die in einer Schneekugel gefangen sind, die auf dem Kamin steht.
Nun scheint alles im Lot zu sein. Die Eltern sind wieder da, die Kinder befreit und Coraline hat ihren Mut bewiesen. Aber so einfach gibt die andere Mutter nicht auf. Wie in jeder guten Gruselgeschichte darf sich der Leser noch nicht in Sicherheit wiegen. Auch wenn Coraline mit Hilfe der Kinder die Tür zur anderen Welt zugeschlagen hat, die Hand der anderen Mutter und die Schatten geben noch keine Ruhe.
Der englische Autor Neil Gaiman ( Jahrgang 1960) fiel bereits mit seinem ebenfalls hintersinnigen wie düsteren Bilderbuch "Die Wölfe in den Wänden" ( Carlsen Verlag, Illustrationen von Dave McKaen, übersetzt von Zoran Drvenkar) auf. Es folgte "Das Graveyard-Buch" ( Arena Verlag), in dem wieder eine morbide Geistergeschichte erzählt wird, die gleich mit einem Mord an einer Familie beginnt und dann auf einem Friedhof mit seltsamen längst verstorbenen Kreaturen spielt.
Im Kinderbuch "Coraline" setzt der englische Autor diese Tradition des geheimnisvoll, gruseligen Plots, der gekonnt mit dem Unbewussten experimentiert, fort. Wie so oft in englischen Kinderbüchern tauchen eine Reihe von skurrilen Personen auf, die in den Träumen des fantasievollen Mädchens oder in der Realität erscheinen.
Neil Gaiman vermischt psychologisch genau Gruselgeschichte und Zaubermärchen, bedient sich gnadenlos bei Lewis Carrolls Klassikern "Alice im Wunderland" und "Alice hinter den Spiegeln" und anderen Autoren, die sich mit der inneren Entwicklung von Kindern, den Urgründen der Seele, auseinandergesetzt haben. Entstanden ist eine spannende, wie äußerst temporeiche Handlung, die getragen wird vom Mut und Selbstbewusstsein eines Mädchens, dass ganz genau weiß, was es will, Lügen durchschaut und hinter die Fassaden blicken kann. Allerdings ist dieses Buch nichts für zarte Gemüter, denn die düsteren Bilder, die im Kopf beim Lesen entstehen und vor allem die grausige, Coraline immer mehr in die Enge treibende Atmosphäre, jagt einem empfindsamen Leser schon die Gänsehaut über den Rücken. Die Vorstellung, die Augen zu verlieren, um wieder in absolute Abhängigkeit zu geraten, geht an die Grenzen des Erträglichen, auch wenn es nur angedroht wird. Beruhigend wirkt da der furchtlose, autonome Kater als getreuer Gefährte des Mädchens. Coraline besinnt sich auf ihren Verstand und widersteht den materiellen Verlockungen der anderen Welt. Sie findet ihren eigenen Weg, um sich und ihre echten Eltern aus den Fängen der zur Hexe mutierten zweiten Mutter zu befreien. Sie wagt den Schritt aus der kindlichen Bindung an die Eltern hin zu eigenständigem Denken und Handeln, zum Erwachsenwerden in der wirklichen Welt. Auch wenn das gute Ende als Belohnung naht, strapaziert Neil Gaiman einen weiten Spannungsbogen, bevor der Leser ausatmen darf.
Neil Gaiman ist ein literarisch anspruchsvoller, wie um keinen Einfall verlegener Autor, der einprägsame Wortbilder findet, um das Unbegreifliche zu beschreiben. Ist es ein Traum, eine Fantasievorstellung der gelangweilten Coraline oder eine wahrhaft grausige Abenteuergeschichte - wer weiß? Jeder kann es für sich interpretieren und den symbolischen Text auf vielen unterschiedlichen Ebenen verstehen.
Das Buchcover weist bereits auf den 3D-Film "Coraline" hin, der sich in weiten Strecken an die Buchvorlage hält. Regisseur Henry Selick findet atemberaubend, surreale, knallige wie verstörende Bilder für Coralines aufwühlende Erlebnisse zwischen Realität und Fantasy, die unter die Haut gehen.
Fazit:
Neil Gaiman hat sich eine symbolträchtige Geschichte über das Erwachsenwerden ausgedacht. Die inneren Prozesse des Mädchens Coraline kleidet er geschickt in eine aufregende, wie bedrückende Handlung, die den Leser, so er sich traut bis zum Ende zu lesen, fesselt und noch lang beschäftigen wird.
Deine Meinung zu »Coraline«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!