Jawohl, es gibt eine Erklärung für die seltsamen, manchmal unheimlichen Geräusche, die des Nachts in Mietshäusern besonders gut zu hören sind. - Ein Bär liefert sie uns.Was wohl würde ein Bär entdecken, der als heimlicher Mitbewohner in den Leitungssystemen eines Großstadt-Hauses am Meer lebt? Wie passt er überhaupt da hinein, und vor allem: wie fühlt sich so ein Bärenleben an?
Der rote Bär von der Titelseite stellt sich und sein Leben vor: er ist der Bär, „der durch die Leitungsrohre geht". Wenn sich die Nacht hernieder senkt, durchkriecht er Warmwasser- und Heizungsrohre und gelangt so von Wohnung zu Wohnung. Als nützlichen Nebeneffekt putzt er eben diese Rohre mit seinem Fell. Besonders vergnüglich sind Rutschpartien über mehrere Stockwerke oder das Foppen der Mieter. Etwa wenn der Bär in Höhe eines Ofens so arg brummt, dass die Köchin Wilhelmine meint, der Ofen ziehe schlecht. Soweit also die vom Autor erdachte Erklärung über die oft schwer zu deutenden Geräusche in alten Mietshäusern. - Der rote Bär zwängt auch gern mal Nase oder Tatzen durch offene Wasserhähne oder beschwört brummend den Groll der Schläfer herauf; er freut sich diebisch, dass niemand erkennt, wer hinter alledem steckt. - All dem Koboldhaften steht aber auch die sensible Seite des Meister Petz gegenüber, der mitleidig fühlt, wie einsam viele Menschen in ihren Betten liegen. Dieser Verlorenheit setzt er unerkannt Liebkosungen entgegen, indem er z.B. den Menschen beim Gesichtwaschen die Nasen leckt.
Die Nacht ist für den pelzigen Gesellen die beste Zeit, um auf dem Schornstein die Aussicht samt „tanzendem Mond" am sternengesprenkelten Himmel zu genießen; der Sommer bietet einzigartige Badefreuden in der Zisterne.
Der argentinische Autor Julio Còrtazar erdachte mit seinem Bären eine Phantasie-Figur, deren surrealistische Lebensumstände und ungewöhnliche Gedanken auf manches deutsche Kind vielleicht befremdlich wirken. Schließlich stellt man sich als imaginäre Bewohner der Versorgungsschächte - so man solche überhaupt kennt - wohl eher insektenartige Wesen vor. Auch über eine Zisterne dürften wohl die wenigsten Häuser in Deutschland verfügen. Das einsame, nächtlich schutzlose Gefühl der Menschen hingegen dürfte jedoch grenzüberschreitend fühlbar sein.
Der Monolog des Bären war durch Còrtazar, einen der bedeutendsten lateinamerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts, wohl ursprünglich für Erwachsene gedacht und soll in der Bilderbuch-Form nun auch Kindern zugänglich gemacht werden.
Emilio Urberuaga, ein spanischer Maler, bebilderte die Geschichte des Autors großformatig seitenfüllend in gedeckt-farbigen, eher düsteren, verrußt wirkenden Pastellkreide-Tönen, was den Szenen bisweilen eine gedrückte Atmosphäre verleiht. Die „unbändige Freude" beim nächtlichen Bad unter sternfunkelndem Himmel oder der Blick auf das Stadtpanorama bei Nacht hingegen erstrahlen in magischen Blau- und Grüntönen. Eine Katze und eine Maus, die es dem Bären gleichtun und durch die Rohre streifen, sind häufig zu entdecken, bleiben jedoch im Text unerwähnt. Es lohnt sich, sie immer wieder zu suchen. Der Bär selbst variiert hinsichtlich seiner Größe, wirkt aber immer etwas plump und zeigt wenig differenzierte Mimik. Warum er rot gezeichnet ist, bleibt bis zum Schluß ein Rätsel.
Fazit:
Die kurze Geschichte vom Bären, der im Rohrsystem lebt und eine Rede über sein Leben hält, eignet sich gut zum Vorlesen und Besprechen der landestypischen Eigenheiten; ob die Geschichte aber eingängig genug ist, um dauerhaft im Gedächtnis zu bleiben, ist zumindest fragwürdig.
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