Kate & Jol Temple
02 | 2019 Kate & Jol Temple haben das Buch „(K)ein Platz für uns“ geschrieben. Wir haben mit beiden darüber gesprochen.
Kinderbuch-Couch.de: Ihr Buch handelt von drei Seehunden, die auf ihrem Felsen sitzen und zwei anderen, die dort auch gerne sitzen würden. Aber der eigentliche Clou ist, dass man das Buch vorwärts wie rückwärts lesen kann. Und die Geschichte sich auf einmal dreht. Wie ist Ihnen die Idee dazu gekommen?
Kate & Jol Temple: Die Inspiration bekamen wir von den traurigen Bildern zweier kleiner kurdischer Brüder, die an einen Strand angespült worden waren. So viele Menschen müssen leiden - das ist die Welt, in der unsere Kinder aufwachsen. Als Kinderbuchautoren wollten wir diesen Gedanken runterbrechen, die Politik aus der Gleichung nehmen und einen sicheren Rahmen schaffen, um über Empathie zu reden. Durch die Möglichkeit, das Buch rückwärts zu lesen, konnten wir das noch gezielter ausbauen und dem Leser Mitgefühl nahebringen. Ich glaube, diese spezielle Verbindung zwischen dem praktischen Ansatz und der Geschichte an sich ist der Grund dafür, dass das Buch bei Kindern und Lehrkräften weltweit solchen Anklang findet.
Kinderbuch-Couch.de:Liest man die Geschichte von vorne nach hinten, finden die drei Seehunde, dass für die zwei anderen kein Platz auf ihrem Felsen ist. Liest man sie von hinten nach vorn, geht es sehr wohl und die drei nehmen die zwei neuen herzlich auf. Wir Großen denken da schnell an das Thema Flucht und Flüchtlinge, aber die Kinder haben ja oft viel kleinere Themen: jemanden mitspielen lassen, jemand neues in der Klasse haben, Süßigkeiten oder Spielzeug abgeben und teilen. Haben Sie es bewusst so offen gehalten?
Kate & Jol Temple: Das Buch ist als Allegorie zu verstehen. Für kleine Kinder geht es darum, zu teilen und freundlich zu sein. Es soll Empathie vermitteln und die Fähigkeit, sich in andere hinein zu versetzen und über den eigenen Erfahrungshorizont hinaus zu denken. Das verstehen auch Kinder schon sehr gut. Allein in der Schule begegnet ihnen das ja jeden Tag. Das Buch wird auch von Kindern höherer Altersklassen gelesen, die schon ein bisschen Vorwissen über soziale Themen mitbringen und darin wiedererkennen. Es ist uns so eine Freude, das Buch mit tausenden von Kindern teilen zu können, und die Bandbreite an Interpretationen ist erstaunlich. Das ist wundervoll, denn genau das hatten wir gehofft. Manchmal fangen Kinder sofort an, über Flüchtlinge oder Obdachlose zu sprechen, andere Male denken sie zuerst ganz allgemein an ein respektvolles Miteinander. All diese Lesarten haben ihre Gültigkeit.
Kinderbuch-Couch.de: Was wäre Ihnen dann am liebsten, was die Kleinen aus all den Deutungsmöglichkeiten mitnehmen?
Kate & Jol Temple: Das Gute an diesem Buch ist, dass es schon ganz kleine Kinder an Empathie oder auch gesellschaftliche Themen heranführt. Wir wollten ein Buch schaffen, das ans Mitgefühl appelliert. Was das angeht sind Medien, Geschichten und Literatur sehr kraftvoll. Wenn dieses Buch einige Leute dazu bringt, sich mehr in andere hineinzuversetzen, wäre das super. Aber wenn es einfach nur um die Freude am Lesen geht, ist das auch toll.
Kinderbuch-Couch.de: Sie gehen mit Ihren Büchern auch in Schulen und Kindergärten und lesen dort mit den Kindern. Waren Sie mit "(K)ein Platz für uns“ auch schon unterwegs? Was sind Ihre Erfahrungen?
Kate & Jol Temple: Dieses Buch Kindern vorzustellen ist eine großartige Erfahrung. Man kann fast den genauen Moment hören, wenn ihnen plötzlich klar wird, dass die Geschichte still und heimlich eine neue Bedeutung angenommen hat. Ich erinnere mich noch an das erste Mal, als ich das Buch präsentiert habe. Das war bei der CBCA Book Week, der australischen Bücherwoche, vor 500 Zwölfjährigen. Wir waren uns nicht sicher, wie die Kinder reagieren und ob sie sich überhaupt für ein Bilderbuch interessieren würden. Sie waren ja schon etwas älter. Doch es war mucksmäuschenstill im Raum, und als sich die Geschichte umdrehte, gingen kleine Rufe des Erstaunens durch die Menge. Am Ende sind alle in Applaus ausgebrochen. Das war ein Gänsehaut-Moment.
Kinderbuch-Couch.de: Ich war ja beim ersten Mal rückwärts lesen sehr gespannt, ob es wirklich funktioniert, der Text, aber auch die Bilder, die Emotionen in den Gesichtern der Seehunde. Ich muss sagen, es funktioniert fantastisch – wie lange haben Sie daran gebastelt, bis wirklich alles gepasst hat?
Kate & Jol Temple: Es hat etwa zwei Jahre gedauert, bis das Buch wirklich fertig war. Ziemlich lange also. Die richtigen Worte zu finden war zum Teil sehr verzwickt, denn jedes einzelne musste die Geschichte ja gleich auf zwei unterschiedliche Arten vorantreiben. Als der Text stand, hat Jol einen Entwurf erstellt, und wir haben mithilfe von Rohskizzen herauszuarbeiten versucht, wie die Geschichte visuell umsetzbar sein könnte. Wir wussten ja noch nicht, ob es überhaupt funktionieren würde. Da mussten wir uns also erst selbst sicher werden, bevor wir einen Illustrator an Bord holen konnten. Als wir eine recht klare Vorstellung davon hatten, wie das Endergebnis aussehen sollte, haben wir wegen der Bebilderung Kontakt zu Terri Rose Baynton aufgenommen. Terri ist eine sehr talentierte neuseeländische Zeichnerin, und sie hat das Buch um einige gute Einfälle bereichert. Aber insgesamt war es schon knifflig.
Kinderbuch-Couch.de: Und, letzte Frage, warum haben Sie als Protagonisten Seehunde gewählt?
Kate & Jol Temple: Das ist witzig, dass Sie das fragen! Anfangs waren es nämlich Meerechsen. Meerechsen sind kaltblütig und ziemlich hässlich, aber dabei auch irgendwie niedlich. Unser Verleger hatte angeregt, ob wir das nicht überdenken wollen. Am Ende blieben wir dann bei Seehunden hängen. Ich glaube, das war die richtige Entscheidung, denn damit das Buch funktioniert, muss der Leser sich in die Seehunde hineinversetzen können. Mit anderen Tieren hätte das vielleicht nicht ganz so gut geklappt.
Das Interview führte Sigrid Tinz im März 2019.
Übersetzt aus dem Englischen von Yannic Niehr.
Foto: © Chris Chen Photography
Neue Kommentare