Unsichtbare Gefährten
Paulas Löwe und Karlsson vom Dach: Viele Kinder haben unsichtbare Gefährten, Tiere, Freunde – in der Realität und auch in der Kinderliteratur
Daisy ist Einzelkind und ihre Eltern sind viel beschäftigt. Eines Tages, als sie gerade frühstückt, spaziert ein großes lila Nashorn in die Küche. Nach dem ersten Schreck werden die beiden „schon bald gute Freunde“, sie unterhalten sich, spielen, toben, kuscheln und futtern Unmengen Pfannkuchen.
Daisy ist die Hauptfigur in dem Bilderbuch Wenn ein lila Nashorn kommt – und das Nashorn ein „IC“, was die Abkürzung von „imaginary companion“ ist und auf Deutsch so viel wie „unsichtbarer Freund“ oder „Fantasiegefährte“ bedeutet. (Und was ich im Verlauf des Textes auch häufig als schönes kurzes Synonym für das Phänomen verwenden werde.) Prototypen sind Karlsson vom Dach, Pumuckl, das Schmunzelmonster Elliott oder Pettersons Findus.
Lustige Geschichten, die wir zum Teil noch aus der eigenen Kindheit kennen – aber irgendwie ist immer auch ein getragener Unterton dabei. Egal ob Meister Eder oder das Waisenkind Pete, ob Petterson oder Lillebror, Menschen mit IC sind oft einsam, vernachlässigt, unglücklich, womöglich gar ein bisschen verrückt, mindestens aber allein. Und wenn wir in der Realität davon hören, dass jemandes Kind – oder unser eigenes – einen unsichtbaren Gefährten hat, denken wir oft: „Da kann doch was nicht stimmen!“
Echte ICs, oder besser gesagt, die ICs echter Kinder und die Kinder, die in echt einen IC haben, sind wenig erforscht – was durchaus als Zeichen zu deuten ist, dass die psychologische Fachwelt das Phänomen für normal hält. Zumindest für Kinder im sogenannten magischen Alter zwischen drei und sechs Jahren, in dem sie noch nicht eindeutig unterscheiden zwischen Fantasie und Realität und abstraktes Denken und Zeitvorstellung sich erst ausbilden.
Stand der Erkenntnis ist dieser:
Je nach Studie haben oder hatten ungefähr die Hälfte bis zwei Drittel der befragten Kinder einen unsichtbaren Gefährten. Und verrückt oder psychisch krank sind die Kinder auf jeden Fall schon mal nicht. Das berichtet die US-Forscherin Marjorie Taylor, die viele Kinder intensiv für eine Studie zu diesem Thema ausgefragt hat:
Irgendwann halten sie inne beim Erzählen, schauen mich an – und sagen: Du weißt aber schon, dass es nicht in echt ist, oder?
Die Kinder würden also nicht verfolgt von Stimmen oder Wesen wie bei einer Psychose, sondern hätten immer volle Kontrolle über ihre ICs, die ihnen gegenüber außerdem durchweg freundlich gesinnt seien.
Helfer bei der Entwicklungsarbeit
Andererseits ist es durchaus oft so, dass ein IC dann auftaucht, wenn es aus irgendeinem Grund – ob schön oder eher nicht – anstrengend und aufregend wird. Für das Kind; aus Elternsicht muss das noch nicht mal etwas besonders Dolles sein. Eine Entwicklungsaufgabe steht an, so nennen es Kindheitsforscher: eine Flugreise, der erste Kindergartentag, die große Schwester kommt zur Schule, Oma stirbt, ein Geschwisterchen wird geboren, die Eltern trennen sich. Oder der beste Freund zieht weg. Wie bei Hank, der Hauptperson in Der unsichtbare Wink: Hanks Eltern haben einfach den Kopf voller Sorgen um ihre Firma, Hank selbst hat überdurchschnittlich viel Alltagsärger und auf einmal ist da dieses Fellbündelwesen, Wink.
Ein Hinweis auf Verwahrlosung, Missbrauch oder Mobbing ist das Auftauchen eines unsichtbaren Freundes aber definitiv nicht.
So der Entwicklungsforscher und Medienpädagoge Professor Norbert Neuss.
Traumatisierte Kinder mit wirklich dramatischen Problemen haben einfach kaum die seelische Kraft, sich einen Fantasiefreund zu schaffen.
Auch wenn man es ihnen wünschen würde.
Denn auch das weiß die Forschung: ICs sind nicht nur tolle Spielgefährten, sondern können dem Kind durchaus helfen, die anstehende Entwicklungsaufgabe zu meistern. Sie können Mutmacher sein, weil sie Kräfte und Eigenschaften haben, die dem Kind fehlen mögen. In Mein Freund das Krokodil hat Toni eigentlich vor nichts mehr Angst, seit das Krokodil bei ihm ist und einfach nur das Maul aufreißt und seine großen, spitzen Zähne zeigt, weder vor dem bösen Hausmeister noch vor den großen Jungs auf dem Spielplatz, die ihn immer ärgern. Oft sind diese ICs ja auch groß und mächtig: Nashörner, Bären, Löwen, manchmal haben sie sogar magische Fähigkeiten. Manchmal sind sie aber auch klein, wie der Kolibri Mukulele oder wie der Pinguin in Pinguin gefunden.
Sie können als Stellvertreter für die Bedürfnisse des Kindes dienen: betüdelt und beschützt zu werden – oder zu betüdeln und beschützen. Oder beides zusammen. In dem das Kind sich um seinen IC kümmert, erlebt es sich als handlungsfähig, stark und groß und lernt dabei Dinge, die es dann für seine eigenen Probleme einsetzen kann. Manchmal haben sie Stellvertreter-und Sündenbockfunktion für kindliche Wünsche und unerwünschte Taten, nach dem Motto: „Das war ich nicht – das war mein Drache“. Das Leben mit ihnen schafft Rituale und die bringen Struktur in den Alltag. Und sie sind Zuhörer, mit denen das Kind all das, was so passiert, durchsprechen kann.
Übrigens gilt das im Kinderbuch genauso wie im echten Leben. Dass ein imaginärer Freund gut sein kann, heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass es schlecht sein muss, wenn in einer aufregenden Lebensphase keiner auftauchen sollte. Vielleicht braucht das Kind ihn einfach nicht. Emotionale Kinder haben eher jemanden als sehr ruhige, ausgeglichene und fantasiereiche eher als nüchterne.
In den Büchern sind ICs selten Menschen, wenn, dann meist menschenähnliche Wesen wie Kobolde. Überwiegend sind es Tiere – wenn wir mal ganz unwissenschaftlich die Drachen dazuzählen. Die übrigens sehr beliebt sind, nicht erst seit Elliot dem Schmunzelmonster. Der Junge Florian in Guter Drache & böser Drache hat gleich zwei davon.
Warum es so oft Tiere sind? Es gibt viele Erklärungen für das besondere Verhältnis von Kind, Tier und Bilderbuch, dass Tiere immer „gehen“ – auch auf dem internationalen Lizenzmarkt – ist sicherlich nicht die schlechteste Erklärung. Mit dem echten Leben bzw. den Studien von Majorie Taylor stimmt das nicht überein: danach haben 80 Prozent der Kinder ein menschliches Wesen als unsichtbaren Freund, meist ein Kind, meist weiblich.
Das Karlsson-Klischee vom einsamen Kind
Nicht immer sind es ausgedachte Figuren, in der Realität wie in den Büchern. Oft ist der beste Freund ein Stofftier, der zeitweise oder nur für das Kind lebendig wird. Trotz all dieser positiven Eigenschaften und Wirkungen von ICs, das Karlsson-Klischee vom einsamen Kind existiert, das merkt man auch den Büchern an.
Zum Beispiel beim lila Nashorn: Weil Daisys Eltern so viel anderes um die Ohren haben als ihrer Tochter zuzuhören, dringt die Nachricht von dem Nashorn auch nicht zu ihnen durch, so oft das Mädchen auch versucht, ihnen davon zu erzählen. Als die Eltern von Daisy den seltsamen Freund ihrer Tochter endlich zur Kenntnis nehmen, machen sie sich natürlich Vorwürfe. Sie bringen das Nashorn zum Flughafen, damit es nach Hause fliegen kann. Und nehmen sich vor, in Zukunft mehr Zeit zu haben für ihre Tochter, spielen, reden, lachen mit ihr.
Oder: die meisten Protagonisten versuchen, ihren Freund geheim zu halten, als wüssten sie um die zwiespältige Einstellung der Erwachsenen: Da beschmiert Anna aus der „Zauberflügel“-Reihe die Flügel ihres Zauberpferdchens mit ordentlich Mist und legt eine Decke drüber, damit es wie ein normales Pony aussieht. Und manche Bücher tragen das Thema sogar im Titel: Als Paula den Löwen vor Oma versteckte ist so eins. Da kommt nämlich die Oma für ein Wochenende, um auf Paula aufzupassen. Und wer weiß, ob Oma einen Löwen im Haus nicht komisch findet. Das Verstecken klappt ziemlich leicht. Denn erstens ist Oma kurzsichtig und zweitens ist sie mit den Gedanken woanders und vollauf damit beschäftigt, selber etwas geheim zu halten, was in ihrem großen Koffer ist.
Ein unsichtbarer Gefährte – nur Kindersache?
Unsichtbare Freunde sind keineswegs ausschließlich Kindersache. Es gibt Jugend- und Erwachsenenbücher mit diesem Thema. Und es gibt Jugendliche und Erwachsene, die so einen Gefährten haben, in den Büchern sogar gar nicht so selten. Paulas Oma zum Beispiel versteckt in ihrem großen geheimen Koffer nichts anderes als ihren eigenen IC: den Bären Bärnhard. In echt sind es statistisch allerdings nur sehr, sehr wenige. Vielleicht ist es wirklich so, dass erwachsene Gehirne rational funktionieren und einfach keine ICs mehr imaginieren können. Vielleicht verlagert sich die Fantasie auch in andere, gesellschaftsfähigere Bereiche: Geschichten lesen, Games spielen, Filme schauen; an Gott glauben oder an Schutzengel, Glücksbringer am Schlüsselbund haben, den Hund mit ins Bett nehmen und mit den Blumen reden, Tagebuch schreiben. Letzteres hat die Psychologin Inge Seiffke-Krenk genau untersucht und festgestellt, dass die meisten Menschen weniger so wie Thomas Mann schon für die Nachwelt schreiben, sondern eher als Gespräch mit einer Art Gegenüber, bei Jugendlichen oft ganz unverstellt: „Liebes Tagebuch, das muss ich dir unbedingt erzählen!“ Wie Anne Frank, die an ihre imaginäre Freundin Kitty schrieb.
Vielleicht gibt es aber auch einfach eine ganz hohe Dunkelziffer? Denn welcher Erwachsene würde es schon groß erzählen, wenn er einen IC hätte? „Normale“ Menschen könnten das ja komisch aufnehmen.
Der unsichtbare Gefährte in der Kinderliteratur
In der Praxis zeigt sich, dass Kinder Bilderbuchgeschichten über tierische unsichtbare Freunde überdurchschnittlich gerne mögen. Sicher, weil Tiere dabei sind, die wie gesagt, immer gehen. Wohl auch, weil die Protagonisten ganz normale Kinder sind, mit denen sich die kleinen Zuhörer und Anschauer gut identifizieren können. Ferner weil es kleine Abenteuerlichkeiten und natürlich unwahrscheinlich lustige Verwicklungen gibt. Manchmal sind die Wesen ja auch einfach unmöglich, zum Beispiel der kleine Kobold Spocke, der sich null und nichts um Manieren und Regeln schert und perfekt in die Fußstapfen von Pumuckl, Karlsson, Sams und Co. tritt.
Bei Freddy und der Wurm ist es die Situationskomik, die das Buch trotz zum Teil schwerer Themen höchst amüsant macht: Auf Freddys Schulter hat sich ein Wurm festgesetzt, mit dem er redet, schimpft, diskutiert und beratschlagt, was ja für alle anderen außer Freddy sehr seltsam anmutet, besonders wenn er im Streit versucht, den Wurm an einer Mauer abzustreifen – und sich dabei selber nur den Kopf anschlägt.
Der IC ist meist das einzige fantastische Element, ansonsten geht es um reales, normales Kinderleben vom Frühstück bis zum Einkaufen, vom Strandausflug bis zur nachmittäglichen Reitstunde, weswegen die Geschichten auch noch viel wiedererkennbaren Alltag bieten.
Ein wichtiger Grund könnte aber auch sein, dass diese Bücher eine Saite zum Klingen bringen, denn es IST ja ein reales Phänomen, dass Kinder einen Fantasiegefährten haben.
Und: Eltern, Erzieher oder Lehrer mögen wissen, dass Kinder mit IC weder krank noch verrückt noch unerträglich emotional belastet sind. Im Alltag ist das Thema trotzdem oft schwierig: man macht sich vielleicht doch Sorgen, oder ist genervt davon, zu jeder Mahlzeit einen Teller mitdecken zu müssen für Batman, Edith oder den Löwen, die Sache immer wieder Verwandten und Fremden erklären zu müssen. Dann kann ein gutes Buch ein echtes Geschenk sein:
Das Kind ins Erzählen bringen, ihm helfen, sich mit den eigenen Gefühlen und Gedanken auseinanderzusetzen und es den Erwachsenen erleichtern, sich sensibel und liebevoll auf das Phänomen einzulassen.
Sagt Norbert Neuss. Und:
IC's verschwinden von alleine, so wie sie gekommen sind. Wenn es soweit ist. Irgendwann.
Oft ohne viel Aufhebens.
In Wir beide, Oskar …für immer! geht der Löwe Oskar einfach, nachdem er und sein Freund gemerkt haben, dass die Zeit dafür gekommen ist. In Ein Platz für Bär machen sich der Junge und sein Bär gemeinsam auf die Suche nach einem neuen Zuhause, als der Bär eines Tages zu groß und zu „bärig“ geworden ist.
Die Fantasiefreunde zu verbieten oder lächerlich zu machen, davon rät Neuss entschieden ab. Genau das passiert in Jodie Moors Das war ich nicht, das war der Drache (leider nur noch antiquarisch). Der Junge hat einen Drachen in seiner Sandburg wohnen, mit dem er viel Spaß hat, der aber auch das ein oder andere anstellt. Übrigens ist das Buch sehr interessant gestaltet, da der Drache zwar auf jedem Bild gezeichnet ist – und auch das, was er aus der Sicht des kleinen Jungen macht: Spuren in den Sand stapfen, mit seinem Feueratem Limonade aufschäumen, andere Kinder verscheuchen, die sich an der Sandburg vergreifen wollten. Aber es ist immer auch zu sehen, wie es „in echt“ (also für die Eltern des Jungen und die Leserinnen und Leser) gewesen sein könnte. Da jagt der Vater im Hintergrund die anderen Kinder weg, der Junge blubbert mit dem Strohhalm und die Drachenspuren stammen von seinen Taucherflossen. Als der Drache bzw. der Junge die Schwester mit Sand beschmeißt, gibts Ärger und eine Standpauke:
„Es reicht uns jetzt mit diesem Drachenzeug!“
Die Familie geht nach Hause, dem Jungen bleibt nichts übrig als den Drachen wegzuschicken.
Das schöne ist aber:
Es nützt nichts. Am nächsten Tag am Strand fläzt der Drache wieder in der Sandburg, und nicht nur das: in jeder Sandburg wohnt jetzt ein Drachenfreund. Ähnlich ist es beim lila Nashorn. Abends ist Daisy so erschöpft vom vielen ungewohnten Miteinanderspielen und Sich-Unterhalten, dass sie einfach nur noch schlafen will. Und so beschließt sie, ihren Eltern erst morgen von ihrem neuen Freund zu erzählen: dem rosa Eisbär, der schon mit seinem Koffer im Flur steht.
Sigrid Tinz, November 2015.
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