Kindermärchen, Erwachsenenmärchen?
Das Seltene – und leicht Mißverständliche – bei Andersen ist, daß er zu den Erwachsenen hinter einer Maske der Kindlichkeit spricht, und daß er Kindern von Erfahrungen erzählt, die eigentlich in die Erwachsenenwelt gehören.
Johan de Mylius
Inhalts-Übersicht:
- Sind Märchen für unsere Kinder überhaupt noch geeignet?
- Was macht Hans Christian Andersen so anders?
- Wie wurde aus dem Dichter Andersen ein berühmter Märchenerzähler?
- Was macht Andersen so wertvoll?
- Einige Worte in eigener Sache
Die meisten von uns, die sich noch nicht intensiver mit Andersen beschäftigt haben, stellen sich seine Märchen als leicht und kindgerecht vor. Diese Annahme wurde nicht zuletzt durch die bekannte Disney-Verfilmung der kleinen Meerjungfrau bestärkt. Man könnte meinen, dass Andersens Märchen „per se“ für Kinder jeden Alters geeignet und vollkommen harmlos seien. Aber leider müssen wir Sie da enttäuschen.
Seine Märchen, die vor Fantasie und Ideenreichtum nur so strotzen, haben meist auch eine dunkle Seite – die nicht zuletzt in dem Dichter selbst verankert war. Hoffnungslosigkeit, Gewalt und Düsternis spielen in ihnen häufig eine zentrale Rolle. Es sind dabei sehr spannende Geschichten – ohne Frage – aber ein allzu schaler Beigeschmack bleibt und die Frage, ob ein kleines Kind dessen gewappent ist. Daher ist es ratsam, sich grundsätzlich mit den Märchen zu beschäftigen, bevor sie den Kindern zugänglich gemacht werden. Nur wenige von Andersens Märchen erscheinen uns für Vorschulkinder geeignet. Es ist nicht nur die schonungslose Härte, mit der Andersen häufig seine Märchenwelt darstellt, sondern auch seine Sprache, die einer gewissen Sprachgewandtheit und Reife bedarf. Es ist also ganz richtig, daß es in der Verantwortung der Eltern bleibt, zu bestimmen, zu welchem Zeitpunkt ihr Kind reif ist für ein bestimmtes Märchen.
Sind Märchen für unsere Kinder überhaupt noch geeignet?
Es ist schon paradox: In Zeiten, in denen außerordentlich viel Wert auf gewaltfreie Kinderbücher gelegt wird (es gibt bereits Verlage, die ausschließlich und gezielt gewaltfreie Kinderbücher herausbringen), werden die Stimmen einiger Pädagogen lauter, unseren Kindern doch die alten Märchen wieder vorzulesen.
Natürlich soll dies nicht auf eine vollkommen undifferenzierte Weise geschehen. Selbstverständlich müssen es gerade für die ganz jungen Zuhörer zu „verarbeitende“ Geschichten sein. Was aber auch als wesentlicher Aspekt herausgestellt wird, ist, dass gerade Kinder zwischen vier und sieben Jahren auf sehr symbolische Weise denken und ihre Welt erfassen. „Um diese Zeit aktivieren die Kiner eine Bewußtseinsschicht, in der bildhaft erlebt und bildhaft gedacht wird. Sie begreifen in dieser Phase über Symbole und Bilder die ganze Welt und ihre hintergründigen Zusammenhänge.“ (aus „Märchen als Schlüssel zur Welt“ von Felicitas Betz, Verlag Kaufmann/Pfeiffer). Aus diesem Grund ist die bildhafte Sprache der Märchen für ihre geistige und emotionale Entwicklung so wichtig. Eltern wissen, welche Geschichten, welche Bilder der Fantasie ihrer Kinder guttun und welche eher für einen späteren Zeitpunkt aufgehoben werden sollten. Und grundsätzlich bleibt es dem Gefühl eines jeden selbst überlassen, ob Märchen in das Kinderzimmer Einzug halten sollen. Häufig sind es eigene Erfahrungen – gute oder schlechte – die uns Eltern bei dieser Entscheidung beeinflussen. Es bleibt die gute alte Regel beim Vorlesen: Nur das, was den Eltern selbst gefällt, kann auch bei dem Kind „richtig“ ankommen.
Was macht Hans Christian Andersen so anders?
Die Besonderheit seiner Märchen muß zum einen vor dem Hintergrund der damaligen Zeit gesehen werden aber auch seine lebenslang eher labile emotionale Verfassung und sein wankendes Selbstwertgefühl sind die maßgeblichen Faktoren, die den Dichter Andersen so speziell machen.
Aus einfachen Verhältnissen stammend, ist es Andersen nie ganz geglückt, seinen Minderwertigkeitsgefühlen zu entkommen. In der damaligen Gesellschaftsform war es nicht möglich, selbst durch das Erlangen von Ruhm und Erfolg, die Andersen durchaus zu Teil geworden sind, seinen ursprünglichen Wurzeln zu entkommen. Voller Bitterkeit musste er erkennen, dass er nie ein „Mitglied der Oberschicht“ werden konnte; nur allzu oft wurde er von der „besseren Gesellschaft“ brüskiert. Obwohl er für seine Arbeit viel Anerkennung fand, befriedigte ihn dies nicht. Diese für Andersen gesellschaftliche Ausweglosigkeit, und die tief empfundene Zurückweisung wird in vielen seinen Geschichten intensiv behandelt. Immer wieder prangert er auf verschiedenste Weise die Dummheit und die Grausamkeit der vermeintlich bessergestellten Gesellschaft an. Hochmut und Arroganz sind Hauptthemen seiner Märchen. (Wie zum Beispiel „Das hässliche Entlein“ oder „Der Schweinehirt“, aber auch „Der Tölpelhans“ zeigt einmal auf sehr vergnügliche Weise, wie ein Außenseiter mit Witz und Natürlichkeit zum König werden kann und die edelsten und feinsten Männer das Nachsehen haben)
Aber schon damals, zu seinen Lebzeiten, waren die Märchen von Andersen etwas anders. Entgegen dem sich ausweitenden Trend der im 19. Jahrhunderts aufkommenden Epoche der Romatik, die erstmals auch die Kinderliteratur weniger belehrend sondern vielmehr unterhaltend werden ließ, erhebt Hans Christian Andersen dennoch mehr oder weniger offenkundig den moralischen Zeigefinger. Allzu oft tritt er dem beliebten klaren Gut und Böse entgegen und zieht das Schwelgen in Graustufen dem unverkennbaren Schwarz oder Weiß vor. Auch fehlt seinen Erzählungen oftmals das für Märchen so typische glückliche Ende. Selbst bei uns Erwachsenen bleibt am Ende eine gewisse Verwunderung; ein Gefühl des Unbefriedigtseins, das uns stutzen lässt. Denn seine Märchen wollen den oftmals gehegten Erwartungen an ein Märchen nicht so recht erfüllen und halten uns auch heute noch gerne den Spiegel vor.
Wie wurde aus dem Dichter Andersen ein berühmter Märchenerzähler?
(aus HANS CHRISTIAN ANDERSEN, Herausgegeben vom Königlich Dänischen Ministerium des Äusseren – Abteilung für Information, Text: Johan de Mylius, Redaktion: Flemming Axmark, Übersetzung: Bernd Kretschmer)
Dieser Ruhm, zu dem ihm insbesondere die Märchen verhalfen, ist in sich selbst ebenfalls eines der großen Paradoxe seines schriftstellerischen Werks. Denn für was wurde er berühmt? Ein Kinderautor zu sein, etwas, was er absolut nicht zu sein wünschte – jedenfalls nicht so, daß es sein eigentliches Anliegen überschatten sollte: ein Dichter zu sein, auf gleichem Niveau wie andere Dichter, ein Dichter für die Erwachsenen. Zwar nannte Andersen seine ersten Gedichtsammlungen (1835-42) Eventyr, fortalte for Børn (Märchen erzählt für Kinder), aber es wurde ihm schnell klar, daß dieses kleine Genre, so wie er es auf eine originelle Weise mit einer Mischung aus Phantasie und alltagsnahem Realismus formte, ihm die Freiheit verlieh, Dinge auszudrücken, die er in den Genres, die sich ausschließlich an erwachsene Leser wendeten, nicht auf die gleiche Weise hätte vermitteln können. Und damit war ihm auch klar, daß die Märchen mindestens ebenso für die Erwachsenen waren wie für die Kinder. Viel später drückte er es in seinen Bemærkninger (Anmerkungen) zu den Märchen und Geschichten so aus: die Kinder verstünden die Staffage, während der tiefere Sinn für die Erwachsenen gedacht war.
Ein weltberühmtes Märchen wie „Die Kleine Meerjungfrau“ erschien erstmalig in einer Sammlung dieser Eventyr, fortalte for Børn (1837), dabei handelt es sich ja um ein durch und durch literarisches Märchen. Es thematisiert den Drang zur Unsterblichkeit, zu Gott, der in der Natur verborgen liegt, im Menschen erwacht und seine geistige Reise über die Schwelle hinaus fortsetzt, die Tod heißt. Eine Geschichte für Kinder? Ja und nein. Nein, wenn man den Disney-Studios glauben soll, die die Geschichte ganz umgestaltet und zu einem „richtigen“ Märchen über die Meerjungfrau gemacht haben, die so gern am Leben der Menschen teilhaben möchte und schließlich ihren Prinzen bekommt. Das Tragische besitzt großen Stellenwert bei Andersen, z.B. in „Historien om en Moder“ (Geschichte einer Mutter), aber in vielen seiner Geschichten finden sich überwältigender Humor, Ironie und Satire, die bis zu einem gewissen Grad nur in seinem Spiel mit den Ausdrucksmöglichkeiten der dänischen Sprache so recht zur Geltung kommen, sich in gewissem Maß aber auch in den Übersetzungen niederschlagen – Züge, die allesamt ganz eindeutig weit über den kindlichen Horizont hinausreichen. Das Seltene – und leicht Mißverständliche – bei Andersen ist, daß er zu den Erwachsenen hinter einer Maske der Kindlichkeit spricht, und daß er Kindern von Erfahrungen erzählt, die eigentlich in die Erwachsenenwelt gehören. Diese Doppelbödigkeit ist vielleicht besser zu verstehen, wenn man weiß, daß Andersen eigentlich überhaupt nicht damit gerechnet hatte, sich als Märchendichter besondere Geltung zu verschaffen. Romanschriftsteller wollte er sein, und Dramatiker. Mit den Romanen – insgesamt schrieb er sechs – hatte er Erfolg, nicht zuletzt im Ausland. Es war sogar so, daß er 1852, als Märchendichter längst eine Berühmtheit, in München einigen Amerikanern begegnete, die ihm berichten konnten, daß man seine Romane in Amerika auf jedem Bahnhof kaufen könnte. Heute sind Andersens Romane vorwiegend von historischem Interesse, aber man sollte nicht vergessen, daß er der erste dänische Autor war, der Gegenwartsromane schrieb.
Was macht Andersen so wertvoll?
Viele der Märchen von Hans Christian Andersen scheinen tatsächlich eher für Erwachsene erdacht worden zu sein – auf diese Weise übte der berühmte Dichter Kritik an der damaligen Gesellschaft Dänemarks.
Aber auch wunderbar poetische, leichte Geschichten voller Fantasie, angefüllt mit seiner tiefen Liebe zur Natur sind vielfach unter seinen Werken zu finden. Geschichten, die leise sind und es dennoch vermögen tief zu berühren, sind wohl seine Stärke. Nicht zuletzt durch seine auch heute noch verzaubernde Sprache, durch seinen Wortwitz und sein Talent, die Dinge so lebendig zu beschreiben, dass es einem leicht fällt sie vor Augen zu haben, gelingt es dem Altmeister der Geschichtenerzähler immer wieder, Jung und Alt in den Bann zu ziehen. Seine Geschichten vermögen es auch heute noch, uns in ihre spannenden Abenteuer mitzunehmen, uns mitfreuen und auch mitleiden zu lassen und nicht selten bringt uns Andersen mit seinen sprachlichen Spitzfindigkeiten zum Schmunzeln. Leider ist bei der Übersetzung vom Dänischen ins Deutsche viel von seinem besonderen Wortwitz verloren gegangen, da es sich um sehr spezifische Ausdrücke und Redewendungen der dänischen Sprache handelt. Dennoch bleiben einige wirklich humorvolle Formulierungen, die seinen Sinn für Situationskomik und seinen messerscharfen Blick für (immer noch aktuelle) menschliche Schwächen deutlich hervortreten lassen.
So ist es auch die Sprache, die an dieser Stelle eine besondere, wenn auch kurze Würdigung erhalten soll. Denn wenn man sich vor Augen hält, wie lange die Entstehung seiner Geschichten zurückliegt, welche Zeitepochen sie überstanden haben, wirkt die Sprache vielfach heute noch frech, lebendig und wahr. Viele Dinge, die Hans Christian Andersen beschreiben hat, hat er mit einer solchen sprachlichen Treffsicherheit erschaffen, das sie an Aktualität nichts eingebüsst haben und uns auch heute noch erreichen. Nach einer gewissen Zeit des „Einlesens“ schlüpfen wir unbemerkt in das damalige Lebensgefühl des 19. Jahrhunderts – eine kleine Zeitreise, die uns weit weg von unserer hektischen Realität bringt. Denn es ist eben diese alte, uns manchmal etwas „hölzern“ erscheindende Sprache, die dieses Kunststück vermag. Sie ist vielfach nicht leicht zu verstehen, doch gelingt es immer besser, je länger man sich mit ihr beschäftigt. Aber so ist es eben auch die Sprache, neben der immer wieder aufkommenden Düsternis seiner Geschichten und der oft sehr komplexen Zusammenhänge, die einer gewissen geistigen und emotionalen Reife des Kindes bedürfen. Somit halten wir eine Vielzahl der Andersen-Märchen erst für Schulkinder geeignet.
Die Sprache bewegt sich zu sehr außerhalb unserer bekannten Alltagssprache und die damaligen Begebenheiten sind den heutigen Kindern (vielfach auch uns) zu fremd, als dass ihr Inhalt so ohne weiteres verstanden wird. Dennoch bieten die Märchen von Hans Christian Andersen eine einmalige Chance, unseren Kindern Weltliteratur in dieser Reinform – in sprachlicher als auch kreativer Hinischt – nahezubringen. Kinder, die fantasievolle Gesichten mögen, denen es gerne auch etwas „spannend-gruselig“ zugehen mag, werden Hans Christian Andersen, vorausgesetzt sie sind schon so weit, sich mit ihm beschäftigen zu können, lieben. Aber auch wir Erwachsene werden unsere helle Freude daran haben, diese, vor Fantasie strotzenden, Geschichten zu lesen.
Einige Worte in eigener Sache
Hier soll und kann nicht die Frage geklärt werden, ob traditionelle Märchen der geeignete Lesestoff für unsere Kinder sind oder nicht. Diese Frage muß jeder Erwachsene für sich entscheiden und dabei natürlich die unterschiedlichen Charaktere des einzelnen Kindes im Auge haben. Es gibt kein klares Ja oder Nein, ebenso wenig wie ein Kind dem anderen gleicht.
Mit all diesen „Wenns und Abers“ im Hinterkopf sollten Sie sich aber keinesfalls den Spaß verderben lassen, gemeinsam mit Ihren Kindern die Welt der alten Märchen zu erforschen. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes ungeheurer Schatz an Fantasie und Spannung sowie, im Falle unseres „Jubilares“, an reiner Poesie. Viel Freude bei Ihrer Entdeckungsreise in längst vergangene Zeiten wünscht Ihnen Ihr KinderbuchCouch-Team.
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