Astrid Lindgren – für unsere heutigen Kinder?
Ist die Welt, in der Astrid Lindgrens Geschichten spielen, nicht zu weit von der unserer heutigen Kinder entfernt?
Betrachtet man die Umgebung unserer Kinder, die geprägt ist durch eine verplante Kindheit, durch Computer und andere elektronische Medien, durch immer weniger Naturerfahrungen und durch Schnelligkeit und Hektik, so könnte es erscheinen, dass Lindgrens Geschichten Kinder von heute nicht mehr ansprechen. Doch das ist weit gefehlt. Die Autorin behielt die kindliche Welt stets im Blick. So vermag sie – fast siebzig Jahre nach dem Erscheinen von Pippi Langstrumpf – immer noch ihre kleinen Leserinnen zu fesseln und in ihre Welt zu entführen. Und sie stellte – in einem 1939 gemeinsam mit ihrem Sohn Lars verfassten Aufsatz – fest: „Es ist nicht leicht, ein Kind zu sein“. Phantastische Ausflüge in die Welt von Pippi Langstrumpf, die sich selbstbewusst der Welt der Erwachsenen entgegenstellt, sprechen somit auch unsere heutigen Kinder an. Und: Astrid Lindgren fordert Zeit und liebevolle Zuneigung ein, die Erwachsene den ihnen anvertrauten Kindern zukommen lassen sollen. In ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1978 in der Paulskirche zu Frankfurt am Main macht sie deutlich:
„Ein Kind, das von seinen Eltern liebevoll behandelt wird und das seine Eltern liebt, gewinnt dadurch ein liebevolles Verhältnis zu seiner Umwelt und bewahrt diese Grundeinstellung sein Leben lang. (...) Freie und un-autoritäre Erziehung bedeutet nicht, dass man die Kinder sich selbst überlässt, dass sie tun und lassen dürfen, was sie wollen. Es bedeutet nicht, dass sie ohne Normen aufwachsen sollen, was sie selber übrigens gar nicht wünschen. Verhaltensnormen brauchen wir alle, Kinder und Erwachsene, und durch das Beispiel ihrer Eltern lernen die Kinder mehr als durch irgendwelche andere Methoden.“
Diese Unabdingbarkeit an liebevoller Zuneigung für das Kind wird durch ihre Darstellung von erwachsenen Bezugspersonen ihrer Hauptfiguren deutlich. Da gibt es etwa Tante Edla und Onkel Sixten in „Mio, mein Mio“, die ihren Pflegesohn Bo entweder ignorieren oder aber mit abwertenden Kommentaren versehen („Tante Edla sagte immer, der Tag, an dem ich ins Haus gekommen bin, sei ein Unglückstag gewesen. (...) Du da, scher dich weg, damit ich dich nicht zu sehen brauche.“(4)). Diesen gegenüber stellt sie die liebevollen Eltern von Bullerbü, die ihren Kindern aufgeschlossen und mit einfühlsamer Aufmerksamkeit begegnen.
Und genau das ist es, was Groß und Klein immer noch an Astrid Lindgrens Geschichten fasziniert: die Sensibilität für kindliche Bedürfnisse, die liebevolle Zuwendung und das Ernstnehmen jeder einzelnen Person. Dies sind die Motive, die jede ihrer Geschichten begleiten – die heiteren und unbeschwerten, aber auch die ernsteren und trübsinnigen.
(4) Astrid Lindgren. Märchen. Verlag Friedrich Oetinger. 1978. S. 106
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